Maerchen aus Malula
ich. Das sind die Autos, die am Tage in meinen Kopf eindringen.«
Kurz nach fünf sah ich meine Mutter in die Küche gehen. Jeden Morgen stand sie auf, kochte einen Mokka für meinen Vater und unterhielt sich etwas mit ihm, bevor er in die Bäckerei ging. Ich schlich zu ihr. »Was machst du zu dieser Stunde?« fragte sie überrascht, weil sie sonst immer die größte Mühe hatte, mich aus den Federn zu locken.
»Der Opa hat mich im Traum erschreckt«, antwortete ich. »Stimmt es, Mutter, daß Opa vierhundert Jahre mit der Flinte gekämpft hat?« fuhr ich fort und setzte mich auf einen kleinen Hocker.
»Kein Mensch auf Erden bringt es auf vierhundert Jahre«, sagte sie mit leiser Stimme, dann lächelte sie. »Und dein Opa hat oft eine Arrakflasche, aber nie eine Flinte in der Hand gehabt. Er war immer besoffen und schlug deine Oma, Gott sei ihrer Seele gnädig. Geh jetzt wieder schlafen!« sagte sie und lachte. »Der Alte und eine Flinte«, wiederholte sie kopfschüttelnd. Meine Mutter hatte ihren Schwiegervater nie besonders leiden können.
»Und dein Vater, hat der Malula mit der Flinte verteidigt?«
»Ein Gewehr war damals ein Vermögen wert. Meine Eltern waren sehr arme Leute. Nein, mein Vater hat nie eine Flinte besessen, aber er hatte Hände so stark wie die Felsen, selig soll er im Schoße Gottes ruhen. Er war Schmied, und wenn er mit dem Hammer auf den Amboß schlug, konnten die Bauern im Nachbardorf die Schläge mitzählen. Solche Schultern hatteer«, sagte sie und breitete ihre Arme aus. »Und doch war er so zärtlich wie ein Küken mit deiner Oma. Frage sie, und du wirst sehen. Sie wird sofort weinen vor lauter Sehnsucht. Doch eines kann ich dir noch berichten. Einmal ist ein Stier ausgebrochen und rannte wild durch die Gassen. Drei Männer hat er schwer verletzt, doch da stand dein Großvater mitten auf der Gasse, und rief ›O heilige Maria, steh mir bei!‹ und schlug das Biest mit der Faust mitten zwischen die Hörner, da brach der Stier zusammen und war auf der Stelle tot.«
Sie hielt eine kurze Weile inne und schaute mich an. »Von allen Kindern bist du ihm am ähnlichsten. Gott gebe dir seine Kraft.«
Mein Vater schaute mich auf dem Weg ins Bad erstaunt an. »Sieh da, auch der Bäckerssohn wacht früh auf! Der Apfel fällt wohl doch nicht weit vom Stamm.«
»Vater, sag, war mein Opa ein Held?« fragte ich ihn am Waschbecken.
»Held? Nein, ein Held war er nicht«, sagte er und seifte sein Gesicht ein.
»Hatte er eine Flinte? Ich meine, konnte er gut zielen?« setzte ich nach.
»Nein, eine Flinte besaß er nicht. Er war ein sehr friedlicher Bauer, aber seine Zunge war gefürchtet. Mein Gott, du hättest seine Verse hören sollen, jedes Wort treffender als ein Pfeil. Die Dichter waren früher Propheten, sie konnten hellsehen. Dein Opa sah die Angreifer von Malula schon Wochen imvoraus. Er trieb die Bauern an, damit sie Vorräte in Sicherheit brachten, denn Malula liegt geschützt in den Felsen, aber wenn man keine Vorräte hat, wird die Festung zur Todesfalle. Am Anfang lachten ihn die Leute aus und sagten, unser Dichter ist wieder betrunken und träumt mit offenen Augen, doch nach genau zwei Wochen kamen die Angreifer, auf den Tag und die Stunde genau, wie es mein seliger Vater vorausgesagt hatte«, fügte er hinzu und kehrte in das Schlafzimmer zurück. Ich folgte ihm. »Können Menschen vierhundert Jahre leben?«
»Warum nicht? In der Bibel lebten sie auch lange. Warum also nicht?« fragte er erneut und zuckte mit den Schultern. »Aber unsereins ist schon mit vierzig eine Leiche. Damals waren die Leute arm, lebten aber nicht so elend wie wir«, fuhr er fort.
Beruhigt ging ich wieder ins Bett, und alsbald schlief ich ein.
Doch plötzlich war mein Großvater wieder da. »Vierhundert Jahre lang habe ich Malula vor dem König beschützt. Schau dir meine Orden an!« rief er und riß sein Hemd auf. Große Narben übersäten seine Brust. »Nun, warum habe ich das alles gemacht ? Damit du auf aramäisch singen kannst, mein Junge, sing mir was Schönes vor, singe!«
»Ich kann doch kein Aramäisch«, antwortete ich.
»Was?!« schrie der Alte entsetzt. »Dreihundertmal wurde Malula verbrannt, und du kannst keine aramäischen Lieder?« Und als ich den Kopf schüttelte,drückte er den Lauf seiner Flinte auf meine Brust. Da wachte ich erschrocken auf.
»Mutter, erzähl doch, hat der Großvater nie gekämpft?« fragte ich beim Frühstück weiter.
»Doch, in der Kneipe fast jede Nacht. Er war ein
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