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Maerchen aus Malula

Titel: Maerchen aus Malula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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Leiter in das Versteck gelangen, die man dann hochzog. ›Baut eine Leiter und holt Takla‹, befahl der König und wandte sich zum Kronprinzen um. ›Du holst sie mit deinen eigenen Händen. Keiner dieser Sklaven und Soldaten darf sie anfassen. Schleife sie zu mir herunter. Ich werde sie eigenhändig in mein Reich zurückbringen.‹
    ›Und die Kinder?‹ fragte einer der Offiziere.
    ›Kein Kind darf überleben. Keiner unter der Sonne soll von dieser Schmach erzählen können. Der Wind wird die Reste dieses Dorfes zerstreuen‹, antwortete der König, befahl seinen Offizieren, beim Kronprinzen zu bleiben, und ritt zu seinem Zelt zurück. Die Soldaten fällten zwei Pappelbäume, die am Bach neben dem Felsen wuchsen, bauten eine gewaltige Leiter und lehnten sie an den Felsen. ›Keiner wird mir entkommen. Du wärst besser nicht geboren, Unglückselige!‹ rief der Bruder und stieg die Stufen der Leiter hinauf. Als er mit gezogenem Schwert triumphierend in der Öffnung der Höhle erschien, schrie Takla ihre Angst um die Kinder aus dem Herzen heraus. Da spaltete sich plötzlich der Fels mit einem furchtbaren Donner. Die Pferde am Fuße des Felsens stoben zurück, und die Soldaten suchten das Weite, aber sie wurden von den herabstürzenden Steinbrocken erschlagen. Takla und die Kinder blieben unversehrt in der Höhle. Im Schutze der gewaltigen Staubwolke flüchteten sie durch die entstandene enge Schlucht, die bis heute Taklas Namen trägt. Ein Bild des Grauens bot sich den Augen des Königs. Sein liebster Sohn lag unter den Steinen verschüttet. Vierzig Tage lang soll der König seinen Sohn beweint haben. ›Hier wird keiner mehr auch nur den Schatten eines Hauses finden‹, soll er gesagt haben, bevor er sein Pferd bestieg und mit den verängstigten Überlebenden seines Heeres in sein Reich zurückritt.
    Takla kehrte mit den Kindern zurück, sie begrubendie Toten und bauten langsam das Dorf wieder auf. Die Kinder wuchsen zu Frauen und Männern heran. Takla sorgte für sie wie eine Mutter.
    Takla kannte ihren Vater gut. Sie war sicher, daß er und seine Nachfahren immer wieder kommen würden. Deshalb ließ sie von der Wasserquelle aus kleine Kanäle bauen, die in die Berghöhlen führten. Jahr für Jahr trug sie Vorräte in die verschiedensten Verstecke und ruhte sich kaum aus. Tag für Tag ließ sie Wächter auf den höchsten Felsen sitzen, da wo auch ich jetzt sitze, und die Ebene bewachen. Mein Junge, es war eine Ehre, der Wächter des Dorfes zu sein. Der König starb kurz nach seiner Rückkehr, doch sein Haß auf Malula pflanzte sich in seinen Nachfahren fort.
    Takla war eine großartige Frau. Als sie starb, trauerte das ganze Dorf ein Jahr lang, keiner sang, und keiner feierte eine Hochzeit. Doch was vermag der Tod gegen einen solchen Menschen? Takla lebt in den Herzen der Malulianer und trotzt der Zeit. Seit heute lebt sie auch in deinem jungen Herzen.« Mein Großvater schwieg und richtete seinen Blick auf die Berge, die weit am Horizont im Dunst untertauchten.
    »Noch eine Geschichte, Opa!«
    »Ich kann nicht mehr, mein Junge. Doch wenn du Aramäisch lernst, erzähle ich dir ein paar spannende Geschichten, die ich auf arabisch nicht zusammenkriege.«
    An jenem Tag begann ich meinen ersten Selbstunterricht in der Sprache meiner Eltern. Es war siebenUhr abends. Mein Vater lag auf dem Sofa und schaute im Fernsehen mit halbgeschlossenen Augen eine alte ägyptische Schnulze an. Meine Mutter saß neben ihm und heulte über das schreckliche Schicksal einer armen Magd, die in einen Prinzen verliebt war. »Was bedeutet Freund auf aramäisch?« fragte ich meinen Vater.
    »Stika.«
    »Und Herz?«
    »Leppa«, antwortete er.
    »Und Erde?«
    »Ar’a«, jammerte mein Alter.
    »Und brennt, ja, was bedeutet brennt?« bohrte ich hartnäckig weiter.
    »Nun laß doch deinen Vater den Film sehen, du Quälgeist«, meckerte meine Mutter, weil sie dem Kitsch nicht mehr folgen konnte.
    »Nun will er Aramäisch lernen, gerade jetzt, wo ich mich etwas ausruhen will. Aber was willst du? Mit einem Freund die Erde verbrennen?« Doch ich versicherte meinem Vater, daß ich mit den Wörtern nur friedliche Absichten hätte. Er antwortete, und ich notierte das Wort in das kleine Heft, das ich mir eigens aus Papier geschnitten und gebunden hatte. Tag für Tag lernte ich eifrig, und am dritten Tag hatte ich einen Satz auswendig gelernt. Von nun an schlief ich Nacht für Nacht mit einem siegessicheren Lächeln auf dem Mund ein. Ich war sicher,

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