Märchen unter dem Wüsenhimmel
im Schoß. „Du musst ihn danach fragen. Durch diese Narbe hat Khalil viele Dinge gelernt – einschließlich nicht zu reden, ohne vorher zu denken. Ich verstehe das einfach nicht. Bestimmt bist du ein nettes Mädchen, aber du bist nicht mit Amber zu vergleichen. Hat er dich deshalb geheiratet?“
Ein Gefühl der Kälte beschlich Dora. „Wer ist Amber?“
Fatima musterte sie eindringlich. „Bis zu eurer Trauung warKhalil mit der jüngsten Tochter des Premierministers verlobt. Ich nehme an, er hat es dir gegenüber nie erwähnt?“
Stumm schüttelte Dora den Kopf und schluckte schwer. „Wann hätte die Hochzeit sein sollen?“, fragte sie mit rauer Stimme.
„Khalil hat sich nie auf ein Datum festlegen lassen“, erwiderte Fatima nachdenklich. „Ich habe mir bisher nichts dabei gedacht, aber jetzt ergibt alles einen Sinn. Er hat auf die Liebe gewartet. Wie romantisch.“
Dora hätte gern daran geglaubt, dass er sie liebte. War es möglich?
„El Bahar ist zwar auf dem Weg in die Moderne, aber wir sind auch unseren Traditionen verhaftet. Das Volk wird es nicht billigen, dass der jüngste Sohn des Königs in einem fremden Land heiratet. Das riecht nach …“ Fatima riss die Augen auf. „Oje, ihr habt doch nicht geheiratet, weil du schwanger bist, oder?“
„Ich kenne ihn nicht mal einen Monat.“
„Ja, natürlich. Nun, um diesem Gerücht und möglichen anderen vorzubeugen, schlage ich eine zweite Trauung vor, und zwar eine traditionelle. Sagen wir in zwei Wochen? Bis dahin können wir den Premierminister und seine Familie beschwichtigen.“
„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll“, verkündete Dora aufrichtig. „Wenn du meinst, dass es hilft, bin ich gern bereit.“
„Gut.“ Fatima erhob sich und zog Dora mit sich ins Schlafzimmer. „Jetzt wird es Zeit, dich für das Dinner anzukleiden. Ich nehme an, Khalil hat dir nichts von Chanel gekauft, oder? Die Jungen haben nicht meinen Sinn für Stil geerbt.“
Sie kramte in den geöffneten Koffern auf dem Bett und hielt Doras Lieblingskleid hoch. „Das hier wird wundervoll aussehen. Zum Glück ist es heller als meins, sodass wir nicht wie im Partnerlook aussehen werden.“ Sie lächelte schelmisch. „Odermöchtest du deinen Mann mit traditioneller Kleidung überraschen?“
„Ich glaube, dazu sind wir beide nicht bereit.“
„Da magst du recht haben.“ Fatima berührte sie am Arm.
„Hab keine Angst vor uns, Dora, oder lass es dir zumindest nicht anmerken. Wir respektieren Stärke und Entschlossenheit, auch bei unseren Frauen. Mein Sohn ist im Moment verärgert und enttäuscht, aber es richtet sich gegen Khalil, nicht gegen dich. Wenn er unhöflich wirkt, dann lass ihn nicht spüren, dass er dir wehtut. Du musst stark sein. Wenn du dich von einem der Männer dominieren lässt, machst du dich zur Sklavin. Verstehst du das?“
„Ich glaube, ja“, erwiderte Dora und fragte sich insgeheim, ob sie es jemals verstehen würde.
Fatima schob sie sanft zum Badezimmer. „Geh dich anziehen. Ich warte und begleite dich dann hinunter zum Dinner. Ich habe einen nicht gerade subtilen Wink von meinem Sohn erhalten, dass die Mahlzeit nur für Männer gedacht ist. Also werden wir sie überraschen. Das ist immer gut. Und jetzt beeil dich.“
Eine halbe Stunde später folgte Dora ihr endlose Korridore entlang. Sie erhaschte Blicke in große Räume, die in westlichem wie in östlichem Stil eingerichtet waren. Durch die Fenster sah sie erleuchtete Gärten und Springbrunnen. Obwohl sie noch immer verwirrt und nervös war, konnte sie nicht umhin, sich auf die Erforschung dieses wundervollen Palastes und seiner Anlagen zu freuen.
Schließlich betraten sie ein Speisezimmer. An dem langen Tisch hätten zehn oder zwölf Personen Platz gefunden, aber er wies nur vier Gedecke auf. Der König saß am Kopfende, mit zwei Söhnen zu seiner Rechten und Khalil zu seiner Linken. Alle vier Männer blickten auf, als die Frauen eintraten.
„Kommen wir zu spät?“, fragte Fatima und ignorierte den unwilligen Blick des Königs. „Ich habe Dora gerade informiert,dass heute Abend ein Familiendinner stattfindet, bei dem wir diskutieren wollen, wie diese Krise gehandhabt werden soll. Der Zeitpunkt ist unglücklich. Schließlich ist es ihr erster Abend in El Bahar, und daher sollten wir sie nicht allein in ihrem Zimmer lassen.“
Khalil grinste verstohlen, als seine Großmutter dem Blick des Königs trotzig standhielt. Givon Khan mochte zu den sechs reichsten Männern der Welt
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