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Märchen von den Hügeln

Titel: Märchen von den Hügeln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waltraut Lewin & Miriam Magraf
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schmiedeeisernen Parktor. Du konntest dorthin gehn, um deiner Löwenhaare willen. Das Haus galt als verlassen. Es wuchs mit Efeu zu.«
    »Manchmal, wenn ich morgens zum Tor lief, war ein Brot da oder ein Krug bläulichweiße Milch.«
    »Oft, Leontine.«
    »Ach, Mutter.«
    »Nicht weinen, Leontine. Es war schrecklich, mein Löwenmädchen, und es war schön. Wollen wir vierhändig spielen? Ich rücke beiseite.« Sie begannen mit den alten Übungen der Klavierschule und unterbrachen nur, um zu korrigieren.
    Als sie geendet hatten, ließ Leontine sich vom Stuhl gleiten, legte den Kopf in den Schoß der Mutter und umschlang sie mit den Armen. »Mutter, wie war es, daß ich zur Löwin wurde?«
    Die Mutter streichelte lächelnd ihre Haarmähne. »Ich weiß es nicht, meine Kleine. Vielleicht bist du diesen Tieren verwandt aus unerinnerten Zeiten, so daß sie bereit waren, dich aufzunehmen. Vielleicht halfen die Gottheiten der Stadt, die ich liebte bis zuletzt, dich zu bewahren als ein Zeichen. Ob Götter, ob Menschen dich forttrugen aus dem Feuersturm, auch das weiß ich nicht. Du wurdest gerettet, bekamst ein zweites Leben. Ich verging mit meinem Haus, wie die anderen schon vorher vergangen waren, bevor sich die Wut der Finsternis umkehrte und zurückschlug auf die, die sie entfacht hatten.«
    »Aber du lebst doch!« rief Leontine und sah zu ihr auf.
    Die Mutter nickte ernst. »Hat es dir dein Pflegevater nicht gesagt? Nichts ist auslöschbar, das Bild bleibt, unberührt von der Zeit.«
    »Wo sind wir hier?«
    »Außerhalb der Zeit. Ruhe aus, mein Kind, schlafe, reife, wachse.«
    »Ach, Mutter, der Kummer! Es ist, als wollten mich zwei zerteilen, und wie soll ich halb leben? Da jeder doch mehr verlangt, als ich ungeteilt und ganz zu geben vermag. Warum kann man nicht einfach Mensch sein?«
    Die Mutter spielte einen perlenden Lauf über die ganze Tastatur. »Es gibt keine einfachen Menschen, Leontine. Alle sind vielfältig und gebrochen, zusammengesetzt, Elb und Zwerg, Gott und Teufel, Nöck und Salamander. Was verlangst du? Sollen sie ärmer werden deinetwegen? Werde du reicher und wachs ihnen zu. Die Welt braucht Vielfältige. Liebe ist schon irdisch genug.«
    Das Mädchen hob den Kopf, um weiterzufragen, aber die Mutter hatte die Hände erhoben, und über dem beglückten Haupt des Kindes rauschte eine Invention von Bach dahin.
    Der kalte Frühling ging ins Land mit Sturm, Hagel und Schnee, als wolle der Winter nicht nachgeben. Leontine ruhte in der Höhle der Wiederkehr wie das Korn im Schoß der Erde, träumend, schlafend, wachsend, ohne zu wissen, auf welches Ziel hin, Schmetterling oder Larve im Wandel der Erscheinungen, von der Musik der Mutter gewiegt, saugend am Born der Erinnerung, gleich, ob bitter, ob süß, im Duft der bunten Pilze, genährt mit Zärtlichkeit. Als die Tage droben länger wurden, kam Unruhe in ihr Herz.
    »Du mußt bald fort«, sagte die Mutter. »Du liebst zu sehr.«
    »Ja. Aber wie?«
    Die Mutter zuckte die Achseln. »Es wird sich ergeben.«
    »Muß ich wieder vergessen?«
    »Ja, Kind. Aber du wirst dich stets erneut erinnern. Und stets erneut wiederkehren. Gedenke der Mutter und der Stadt.«
    Dann spielten sie zusammen, und Leontine sang leise das Lied, das die Mutter noch nicht kannte, alle Strophen. Beim Klang einer Mozartsonate schlief sie ein, den Kopf auf dem Schoß, der sie geboren.

Noch einmal von vorn
    Im Mai gab es die ersten wirklich schönen Tage. Das Drachenweibchen begann sich in der Wärme zu regen und einen so durchdringenden Schwefelgeruch auszuströmen, daß Klinger sogleich in die Stadt fuhr, um im besten Geschäft das teuerste Parfüm für die Echse zu kaufen. Nach langer Zeit hatte er Lust auf eine wilde Spazierfahrt, aber dann fiel ihm ein, daß sein Zweitwagen in Reparatur war und er in dieser Woche noch einige Termine hatte, und er beschloß, reiten zu gehen.
    Die Hügel grünten und leuchteten, Blatt und Blüte waren nach so langer Zurückhaltung gleichzeitig hervorgeschossen. Lind strich die Luft um Roß und Reiter, von Ast zu Ast gaben ihnen Vögel das Geleit. Der Sänger vergaß seinen Kummer. Den Kopf im Nacken, seine Weisen summend und singend, zog er durch Wald und Tal, umflossen von Licht.
    Plötzlich stutzte er. Diese Birken, Lärchen und Buchen, die sich fast ohne Übergang in ein Tännicht wandelten, diese aufgehäuften Steine, die Felswand dort - er kannte die Gegend. Dort war er mit Leontine gewesen an einem goldenen Herbsttag, sie hatte Pilze für ihn

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