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Märchen

Märchen

Titel: Märchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Lindgren
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weit und breit, heut wie allezeit, die hast du nicht mehr.
    Wir haben den Wolf gesehen, wie er sich des Nachts über sie hermachte. Doch wenn du mir versprichst, mit diesem Tu, tu, tu aufzuhören, dann will ich dir neue Schafe schenken.«
    Stina Maria fürchtete sich so sehr, daß sie am ganzen Leibe zitterte, aber als sie hörte, daß sie neue Schafe bekommen sollte, da faßte sie sich ein Herz und flüsterte dem Grauen zu:
    »Ist das wahr? Schenkst du mir neue Schafe?«
    »Ja, wenn du mitkommst und sie dir holst«, sprach der Graue.
    Und ehe Stina Maria wußte, wie ihr geschah, hatte der Graue sie vom Fuchsstein gehoben und den Fels mit einem einzigen Stoß beiseite gewälzt. Dann packte er sie beim Arm, und fort ging es, geradewegs hinein in die dunkle Erde, durch einen Schacht, so lang und schwarz wie die Nacht. Und Stina Maria dachte: Nie habe ich einen solchen Fuchsbau gesehen. Es wird wohl mein Tod sein.
    Und dann war sie im Reich der Unterirdischen. Dort schlummern die tiefen Dunkelwälder, die nie ein Windhauch streift, dort wallt der Nebel schwer über dem weiten Dunkelwasser, das nie die Sonne spiegelt, nie Mond oder Sterne, dort herrscht die Urzeitfinsternis. Und dort hausen in Höhlen und Grotten die Unterirdischen. Jetzt wimmelten und wogten sie hervor aus ihren Schlünden und Gründen und scharten sich um Stina Maria gleich Schatten. Und der Graue, der sie herabgeholt hatte von der Erde, sprach zu ihnen:
    »Schafe weit und breit, heut wie allezeit, die soll sie haben.
    Kommt, kommt herbei aus den Dunkelwäldern, ihr Lämmer und Schafe, so viel an der Zahl, wie der Wolf ihr stahl.«
    Da hörte Stina Maria ein Klingen und Läuten von Glöckchen, und aus dem Wald gehüpft kamen in langer Reihe die Schafe und Lämmer. Nicht weiß wie die Kapelaschafe waren sie, sondern grau, und alle trugen ein goldenes Glöckchen am Ohr.
    »Nimm sie mit und kehre heim nach Kapela«, sprach der Graue.
    Und die Unterirdischen wichen zur Seite, um Stina Maria und ihren Schafen Platz zu machen. Doch eine Gestalt wich nicht zur Seite. Es war eine Frau. Ganz still stand sie vor Stina Maria.
    Und grau war auch sie und schattengleich und alt wie Erde und Steine. Und sie griff nach Stina Marias blonden Zöpfen und ließ sie durch ihre Hände gleiten.
    »Blondkind, Lichttochter«, wisperte sie. »So ein Kind habe ich mir schon immer gewünscht.«
    Und sie strich Stina Maria mit ihrer Schattenhand über die Stirn, und in dem Augenblick war alles aus ihrem Gedächtnis gelöscht, was ihr lieb und teuer gewesen war. Sonne, Mond und Sterne waren ihr versunken, die Stimme der Mutter vergessen und der Name des Vaters, der Geschwister entsann sie sich nicht mehr, die sie liebgehabt hatte, und nicht mehr des Großvaters, auf dessen Schoß sie gesessen. Das ganze Kapela war aus ihrer Erinnerung verschwunden. Das einzige, was sie wußte, war, daß die Schafe mit den goldenen Glöckchen ihr gehörten.
    Sie trieb sie zurück in den Dunkelwald, damit sie dort weideten, sie führte sie hinab zum Dunkelwasser, damit sie dort tranken, und das kleinste Lämmchen nahm sie auf den Arm, wiegte es hin und her und sang dazu: »Schu, schu, Lämmchen mein, armes, armes Lämmchen klein.« Denn an diese Worte erinnerte sie sich noch. Und während sie so sang, war ihr, als sei sie selbst ein verirrtes Lämmchen klein, und sie weinte. Wer sie aber wirklich war, das wußte sie nicht mehr. Des Nachts schlief sie in der Grotte bei der Frau mit den Schattenhänden, und sie nannte sie Mutter. Und ihre Schafe und Lämmer nahm sie mit in die Grotte, damit sie neben ihr schliefen; in der Finsternis dort drinnen hörte sie gern die Glöckchen läuten.
    Tage und Nächte verrannen. Monate und Jahre gingen dahin, und Stina Maria hütete ihre Schafe im Dunkelwald, sie träumte und sang am Dunkelwasser, und die Zeit verging.
    Und über dem Reich der Unterirdischen lastete die Stille. Niemals hörte Stina Maria einen anderen Laut als ihre eigenen gesummten Weisen, das leise Klingen der Glöckchen oder Vogelrufe aus dem Nebel, wenn sie ihre Herde hinabgeleitete zum Dunkelwasser.
    Und wieder einmal saß sie in dieser Stille, sah die Schafe trinken, ließ die Finger durch das Wasser gleiten und dachte an nichts.
    Da erscholl plötzlich ein Dröhnen, so gewaltig, daß die Luft über dem Dunkelwasser erbebte, und es erklang eine Stimme, so mächtig, daß sich die Bäume im Dunkelwald bogen, und weithin über das Reich der Unterirdischen hallten die Worte, die so alt waren wie

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