Märchen
Kapelas alter Hof.
Tu, tu,tu,
Schafe weit und breit,
heut wie allezeit,
so groß ist die Himmelsweid’.
Stina Maria fuhr auf wie aus tiefem Schlaf.
»Ja, Großvater«, rief sie, »hier bin ich!«
Und jetzt fiel ihr alles wieder ein, jetzt erinnerte sie sich wieder.
An Großvater und die Stimme der Mutter, an den Namen des Vaters und daran, wer sie selbst war und daß ihr Heim der Kapelahof war. Doch sie weilte ja bei den Unterirdischen, auch das wußte sie jetzt. Gefangen war sie dort, wo weder Sonne schien noch Mond noch Sterne, das wußte sie nun wieder. Da begann sie zu laufen. Und ihre Schafe und Lämmer folgten ihr, wie ein grauer Strom rann es durch den Dunkelwald.
Doch die Unterirdischen, die das Dröhnen gehört und die Stimme vernommen hatten, sie alle wimmelten und wogten nun hervor aus den Schlünden und Gründen. Sie tuschelten und zischelten erbost miteinander, und ihre Augen waren schwarz vor Zorn.
Und alle starrten auf Stina Maria, und ein Murmeln hob an, und sie wiesen mit Fingern auf sie. Der Graue, der sie herabgeholt hatte von der Erde, nickte.
»Laßt sie schlafen im Dunkelwasser«, raunte er. »Ruhe finden wir nicht, solange ihr Geschlecht auf Kapela wohnt. Laßt sie schlafen im Dunkelwasser.«
Und sofort scharten sich die Unterirdischen um Stina Maria gleich Schatten. Und sie griffen sie und führten sie hinab zum Wasser, wo der Nebel hauste.
Aber die Frau, die Stina Maria Mutter genannt hatte, schrie auf, und nie zuvor hatte bei den Unterirdischen jemand so geschrien.
»Mein Blondkind, meine Lichttochter!« schrie sie.
Sie drängte die anderen zur Seite und schlang ihre Schattenarme um Stina Maria, und als sie in die Runde starrte, waren ihre Augen schwarz vor Zorn, und ihre Stimme war heiser, als sie rief:
»Ich allein und kein anderer bettet mein Kind zur Ruhe, wenn die Zeit gekommen ist.«
Und sie hob Stina Maria auf und trug sie auf ihren Armen zum Wasser. Die Schar der Unterirdischen aber blieb lauernd zurück.
»Komm, komm, Blondkind mein«, flüsterte sie, »komm, gleich schläfst du ein.«
Über dem Dunkelwasser lag schwer der Nebel. Jetzt warf er seine Schleier über Stina Maria und die Frau, die sie trug. Doch Stina Maria sah das Wasser unter sich blinken, und da weinte sie und dachte: Schu, schu, Lämmchen klein, niemals kehrst du wieder heim.
Da strich ihr die Frau, die sie Mutter genannt hatte, mit der Schattenhand über die Wange und flüsterte ihr zu:
»Blondkind mein, folg der Herde dein!«
Und plötzlich war Stina Maria allein im Nebel. Nicht die Hand vor Augen konnte sie sehen, doch sie hörte die goldenen Glöckchen klingen und folgte ihrem Schall. Und das Klingen geleitete sie durch Finsternis und Nebel, und sie kannte nicht Weg noch Steg und wußte nicht, wohin sie ging.
Nachdem sie lange gewandert war, spürte sie Gras unter den Füßen, kurzes Gras wie auf einer Weide, wo Schafe gegrast haben.
Wo ich bin, weiß ich nicht, dachte Stina Maria, aber solch Gras wächst daheim auf der Weide.
In demselben Augenblick sank der Nebel zu Boden, und da erblickte sie den Mond. Es war der Mond über Kapela, er stand genau über dem Dachfirst des Schafstalles. Und auf dem Fuchsstein saß der Großvater mit dem Stock in der Hand.
»Wo steckst du denn so lange?« sagte Großvater. »Spute dich, noch ist die Grütze warm.«
Doch dann schwieg er still. Denn jetzt sah er die Schafe, alle die hübschen weißen Schafe mit ihren kleinen, rundlichen Lämmchen, die im Mondschein grasten. Ja, er sah sie klar und deutlich vor sich und hörte die allerhellsten Glöckchen von der Wiese herüberläuten. »Gott steh mir altem Mann bei«, rief Großvater. »Es läutet mir in den Ohren, und meine Augen sehen die Schafe, die der Wolf gerissen hat.«
»Es sind nicht die Schafe, die der Wolf gerissen hat«, sagte Stina Maria.
Da las er in ihren Augen, woher sie gekommen war, denn wer bei
den Unterirdischen geweilt hat, dem steht es im Gesicht geschrieben das Leben lang. Nur ein kleines Weilchen ist man dort, nur so lange bis die Grütze gar gekocht und der Mond über den Dachfirst des Schafstalls gestiegen ist, und doch steht es einem im Gesicht geschrieben das Leben lang.
Großvater schloß Stina Maria in seine Arme und zog sie auf den Schoß.
»Schu, schu, Lämmchen mein«, murmelte er. »Wie lange warst du denn fort, mein armes, armes Lämmchen klein?«
»Monate und Jahre war ich fort«, sagte Stina Maria. »Und wenn du nicht gerufen hättest, dann wäre ich jetzt
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