Märchen
wollten nicht, daß ihnen die kalte Schere durch das Fell fuhr, und sie wollten auch ihre warme, weiche Wolle nicht hergeben, damit die Leute auf Kapela Kleider für den Winter hatten. Am meisten ängstigten sich die Lämmchen. Sie blökten gar jämmerlich, wenn sie auf Großvaters Schoß lagen, und konnten nicht begreifen, warum sie geschoren werden sollten.
Es war nämlich Großvater, der die Schere führte, denn niemand schor so sicher wie er. Und während Großvater schor, hielt Stina Maria den Kopf des Lammes und sang, wie Großvater es sie gelehrt hatte:
Schu, schu, Lämmchen mein,
armes, armes Lämmchen klein.
Ach, die armen Lämmchen klein, nun war ihnen viel Schlimmeres widerfahren. Denn gewiß biß der Wolfsrachen grimmiger zu als die Wollschere, und gewiß war es ärger, im eigenen Blut zu baden, als in dem großen Waschzuber geseift zu werden.
»Ach, nie wieder werden wir wohl hier auf Kapela Schafe scheren«, sagte Stina Maria.
Doch das sollte sich zeigen...
Als Großvater abends in seine Kammer ging, merkte er, daß er seinen Stock vergessen hatte.
»Er muß wohl hinter dem Schafstall liegengeblieben sein«, sagte er zu Stina Maria. »Lauf du hin auf deinen flinken jungen Beinen und hol ihn mir.«
»Aber wir essen gleich«, sagte die Mutter. »Und wenn du etwas von der Grütze abhaben möchtest, dann mußt du dich schon sputen.«
Es ging bereits auf den Herbst zu, und jetzt am Abend, als Stina Maria lief, um den Stock zu holen, war es schon dämmerig draußen. Alles war ganz still, kein Lied und kein Laut waren zu hören. Es wurde Stina Maria so wunderlich ums Herz und auch recht bange. Sie mußte daran denken, was sie von der Uldra gehört hatte und vom Troll, von den Alben und vom Nöck und von den Unterirdischen. Und plötzlich war ihr, als sähe sie sie mit eigenen Augen. Die Ährengarben auf dem Felde, so struppig und düster, das waren ja die Trolle, die ihr entgegengetapst kamen auf zottigen Tatzen. Und die Nebelschwaden über der Wiese, gewiß waren das die Alben, die ihr sachte entgegenwallten, um ihr den Ausschlag anzuhauchen.
Und die Uldra mit ihren wilden Augen, stand sie nicht dort drinnen im Wald und starrte dem Kind entgegen, das am Abend allein unterwegs war? Und was planten wohl die Unterirdischen, jene, die man nicht beim Namen nennen durfte?
Aber dort auf dem Hang hinter dem Schafstall, wo Großvater gesessen hatte, lag ja der Stock. Stina Maria hob ihn auf, und kaum spürte sie die glatte, runde Krücke in der Hand, schwand ihre Furcht dahin. Sie setzte sich auf einen großen Stein und sah über Feld und Wiese, über Wald und Gehöft. Und da sah sie, daß es ihr geliebter Kapelahof war, mit seinen Ährengarben auf den Feldern, die ihnen Brot geben würden, mit seinen wallenden Nebelschwaden über den Wiesen, mit seinem dunklen Wald und mit seinen blinkenden Fenstern, die das trauliche Herdfeuer jetzt erleuchtete. Das war ja ihr liebes Kapela, ihr Heim, und sie fürchtete sich nicht länger.
Ja, selbst der Stein, auf dem sie saß, war ein Teil von Kapela.
»Fuchsstein«, so nannte ihn der Großvater, und darunter war
ein tiefes Loch in der Erde. Ein alter Fuchsbau sei es, hatte der Großvater gesagt, obwohl niemand auf Kapela sich daran erinnern konnte, daß dort je ein Fuchs gehaust hätte. Stina Maria dachte an den Fuchs, und sie dachte an den Wolf, aber Angst hatte sie nicht. Sie packte den Stock fester und stieß damit auf den Boden, genau wie Großvater es tat, und dabei sagte sie den Spruch her, der so alt war wie Kapelas alter Hof.
Tu, tu, tu,
Schafe weit und breit,
heut wie allezeit,
so groß ist die Himmelsweid’.
Doch jetzt zu dieser Stunde geschah etwas. Ohne daß sie wußte, wie es zugegangen war, stand plötzlich ein kleines Männlein vor ihr, grau wie die Dämmerung und schattengleich wie die Nebelschwaden. Und seine Augen waren so alt wie Erde und Steine, seine Stimme so alt wie das Murmeln des Wassers im Fluß und das Rauschen des Windes in den Bäumen. Und es sprach zu ihr, leise, daß sie es kaum verstehen konnte.
»Ein Ende muß es haben«, raunte er. »Ein Ende mit dem Tu, tu, tu und dem Klopfen über uns. Es muß ein Ende haben!«
Als er so raunte, begriff Stina Maria, daß einer der Unterirdischen vor ihr stand. Und es packte sie ein Entsetzen, so groß, wie sie es noch nie gekannt hatte. Sie konnte nicht sprechen und sich nicht rühren, konnte nur ganz still auf dem Fuchsstein sitzenbleiben und der raunenden Stimme lauschen.
»Schafe
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