Märchen
gaben ihm wilde Erdbeeren, die sie im Wald gepflückt und auf einem Strohhalm aufgezogen hatten; es waren nur wenige und kleine, aber es waren die ersten Erdbeeren des Jahres, und die sollte Nils haben, denn seine Geschwister waren so froh, daß er am Leben war und Erdbeeren essen konnte.
»Wir haben sie am Hügel ganz nahe bei der Königshöhle gefunden«, sagten sie. »Und jetzt wollen wir zur Wildgiebelinsel rudern und nachsehen, ob es da auch schon welche gibt. Voriges Jahr haben wir so viele dort gefunden, erinnerst du dich, Nils?«
»Nils erinnert sich wohl an nichts mehr«, sagte die Mutter.
»Er ist ja so schwer krank gewesen.«
Durch das offene Fenster drangen Laute und Düfte des Sommers in die Stube, denn es war Juni, und Flieder und Goldregen blühten rings um die Kate, und der Kuckuck rief wie toll. Aber er rief vom anderen Ufer des Sees, weit drüben auf der Wildgiebelinsel.
Die Schafe auf Kapela
or langer Zeit, in den Tagen der Armut, da gab es noch Wölfe im ganzen Land, und eines Nachts riß einer die VSchafe auf dem Kapelahof. Als die Leute am Morgen erwachten, lagen alle die wolligen Schafe, alle die kleinen, blökenden Lämmer zerfetzt und blutig draußen auf der Weide.
Das aber war in den Tagen der Armut ein Unglück, so groß, daß man nur schaudern konnte. Oh, wie sie klagten und sich grämten auf Kapela, oh, wie das ganze Dorf wütete über den Wolf, dieses Untier, diesen Blutschlürfer! Die Männer des Dorfes zogen aus mit Büchse und Wolfsnetz, sie stöberten ihn auf in seiner Höhle und trieben ihn in das Netz, und dort fand er seinen Tod. Nie wieder würde dieser Wolf Schafe morden.
Doch der Trost war nur gering, denn die Schafe waren und blieben tot, und der Kummer war groß auf Kapela. Zwei auf Kapela trauerten mehr als alle anderen, und das waren Großvater und Stina Maria, der Älteste und die Jüngste auf dem Hof. Sie saßen auf dem sonnigen Hang hinter dem Schafstall und weinten.
Wie oft hatten sie nicht dort gesessen und die Schafe auf der Weide grasen sehen, so friedlich, als gäbe es keinen Wolf auf der Welt.
Tagaus und tagein, solange der Sommer währte, hatten sie dort gesessen, Großvater, um seine kalten Beine in der Sonne zu wärmen, und Stina Maria, um sich ein Spielstübchen zwischen den Steinen zu bauen und Großvater zu lauschen, wenn er von dem erzählte, was nur die Alten wissen. Von der Uldra, die ihr
Haar kämmt mit goldenem Kamm und hohl ist im Rücken; von den Alben, denen nahe zu kommen man sich hüten muß, denn ihr Hauch bringt Ausschlag und anderes Übel; vom Nöck, der im dunklen Fluß flötet, und vom Troll, der durch den dunklen Wald tapst, und von den Unterirdischen, jenen, die man nicht bei Namen nennen darf. Von allen diesen sprachen Großvater und Stina Maria, wenn sie hinter dem Schafstall saßen, denn wer sehr alt ist auf Erden und wer sehr jung, begreift derlei besser als die anderen.
Zuweilen geschah es auch, daß Großvater einen Spruch hersagte, einen Spruch, der so alt war wie Kapelas alter Hof.
Tu, tu, tu,
Schafe weit und breit,
heut wie allezeit,
so groß ist die Himmelsweid’.
Und im Takt zu diesen Worten stieß Großvater seinen Stock auf den Boden, und am Schluß wies er damit hoch in die Luft, damit Stina Maria so recht sehen sollte, wie groß die Himmelsweide war, die Kapelas Schafe und Lämmer schützte.
Doch nun saßen Großvater und Stina Maria dort und weinten, denn es gab keine Schafe weit und breit, heut wie allezeit. Sie waren tot, jedes einzelne Schaf, jedes einzelne Lamm, und die Himmelsweide war nicht groß genug gewesen, sie vor dem Wolf zu schützen.
»Morgen hätten wir sie geschoren, falls sie am Leben geblieben wären«, sagte Stina Maria.
»Ja, morgen hätten wir sie geschoren«, sagte auch Großvater.
»Falls sie am Leben geblieben wären.«
Wenn man die Schafe auf Kapela schor, dann war das ein Freudentag, nicht gerade für die Schafe, aber für Großvater und Stina Maria und alles Gesinde auf dem Hof. Dann schleppte man den großen Waschzuber hinaus auf den Hang hinter dem Schafstall, dann holte man die Wollschere von der Wand im Wagenschuppen, und dann kam die Bäuerin auf Kapela mit den hübschen roten Bändern, die sie selbst gewebt hatte, um damit den Schafen die Beine zu binden, so daß sie nicht davonlaufen konnten. Denn die Schafe fürchteten sich. Sie wollten nicht im großen Waschzuber geseift werden, sie wollten nicht mit roten Bändern geschnürt und gefesselt auf dem Hang liegen, sie
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