Märchen
die Kinder, die am Bach spielten. »Nach Sonnenau bist du gekommen.«
»Auf Sonnenau, dort wohnten wir früher, ehe das graue Feldmausleben begann«, sagte Matthias. »Aber so sah es dort nicht aus.«
Da lachten alle Kinder.
»Dann ist dies wohl ein anderes Sonnenau«, sagten sie.
Und dann ließen sie Matthias und Anna mitspielen. Matthias schnitzte ein Schiffchen aus Borke, und Anna setzte die rote Feder, die der Vogel verloren hatte, als Segel darauf, und dann ließen sie ihr Schiffchen in den Bach gleiten, und es segelte davon mit seiner roten Feder, fröhlicher als alle anderen Borkenschiffchen.
Ein Mühlrad bauten sie sich auch, das sich im Sonnenschein drehte, und sie liefen barfuß im Bach und spürten weichen Sand unter den Füßen.
»Weichen Sand und lindes Gras, das haben sie gern, meine Kinderfüße«, sagte Anna.
Da hörten sie eine Stimme, die rief:
»Kommt, alle meine Kinder!«
Matthias und Anna hielten inne mit ihrem Mühlrad.
»Wer ruft dort?« fragte Anna.
»Das ist unsere Mutter«, antworteten die Kinder. »Wir sollen jetzt zu ihr kommen.«
»Sie will sicher nicht, daß Anna und ich mitkommen«, sagte Matthias.
»Gewiß will sie das«, sagten die Kinder. »Sie will, daß alle Kinder zu ihr kommen.«
»Aber sie ist ja nicht unsere Mutter«, sagte Anna.
»Gewiß ist sie das«, sagten die Kinder. »Sie ist doch die Mutter aller Kinder.«
Da folgten Matthias und Anna den anderen Kindern über die Wiese zu einer kleinen Hütte, und dort war die Mutter. Man konnte sehen, daß es die Mutter war, sie hatte die Augen einer Mutter und die Hände einer Mutter, und ihre Augen und ihre Hände waren für alle Kinder da, die sich um sie drängten. Sie hatte Eierkuchen für die Kinder gebacken und Brot, sie hatte Butter gekirnt und Käse bereitet, und alle Kinder durften essen, soviel sie wollten, und während sie aßen, saßen sie draußen im Gras.
»Das ist das Beste, was ich je in meinem Kinderleben gegessen habe«, sagte Anna.
Doch Matthias wurde plötzlich blaß und sagte:
»Gnade uns Gott, wenn wir nicht zur Melkzeit zu Hause sind.«
Und nun hatten sie es eilig, jetzt fiel ihnen ein, daß sie allzu lange fort gewesen waren. Sie dankten für die Mahlzeit, und die Mutter streichelte ihnen die Wangen und sagte: »Kommt bald wieder.«
»Kommt bald wieder«, riefen auch alle Kinder. Sie begleiteten Matthias und Anna zur Pforte in der Mauer. Sie stand noch immer einen Spaltbreit offen, so daß sie die Schneewehen draußen sehen konnten.
»Warum ist die Pforte nicht geschlossen?« fragte Anna. »Der Schnee kann ja hereinwehen.«
»Wenn die Pforte geschlossen wird, dann kann sie nie wieder geöffnet werden«, sagten die Kinder.
»Nie wieder?« fragte Matthias.
»Nein, nie, nie wieder«, antworteten die Kinder.
Der rote Vogel saß noch immer in der Birke mit den krausen grünen Blättchen, es duftete so gut, wie Birkenlaub im Frühling duftet. Aber draußen vor der Pforte lag der Schnee hoch, und
der Wald stand frostig und kalt in der Winterdämmerung.
Matthias nahm Anna bei der Hand, und sie liefen durch die Pforte. Und sofort stürzte sich die Kälte auf sie, aber auch der Hunger, und es war, als hätten sie nie Eierkuchen gegessen, als hätten sie nie Brot bekommen.
Der rote Vogel flog ihnen voraus und wies ihnen den Weg, doch in der trüben Winterdämmerung leuchtete er nicht mehr so rot. Auch ihre Kleider waren nicht mehr rot. Grau war das Tuch, das Anna um die Schultern trug, und grau war das alte Lodenwams, das Matthias vom Myrabauern geerbt hatte.
Und schließlich kamen sie nach Hause, und sie eilten in den Stall, um die Myrakühe zu melken und auszumisten bei den Ochsen.
Und als sie am Abend in die Küche kamen, sagte der Myrabauer:
»Ein Glück, daß das mit der Schule mal ein Ende hat.«
Doch Matthias und Anna setzten sich in einen Winkel in der dunklen Küche und sprachen lange von Sonnenau.
Und sie lebten ihr graues Feldmausleben im Stall des Myrabauern weiter. Doch jeden Tag gingen sie zur Schule, und jeden Tag saß der rote Vogel auf dem Waldpfad und nahm sie mit nach Sonnenau. Dort ließen sie ihre Borkenschiffchen schwimmen, dort schnitten sie Weidenflöten und bauten sich Spielstübchen am Bergeshang, und jeden Tag gab ihnen die Mutter zu essen, soviel sie wollten.
»Hätten wir Sonnenau nicht, dann gäbe ich nicht viel für mein Kinderleben«, sagte Anna.
Doch der Myrabauer sagte, wenn sie abends in die Küche kamen:
»Ein Glück, daß das mit der Schule mal
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