Märchen
Heringslake, und weinten gar viel, wenn niemand es sah.
»Bliebe ich doch nur bis zum Winter leben und dürfte zur Schule gehen«, sagte Anna.
Als der Herbst nach Myra kam, da spielten Matthias und Anna nicht Versteck in der Dämmerung zwischen den Hütten, da kauerten sie am Abend nicht unter dem Küchentisch und flüsterten sich Märchen zu, nein, sie melkten die Myrakühe und misteten aus bei den Ochsen, sie aßen Kartoffeln, getunkt in Heringslake, und weinten gar viel, wenn niemand es sah.
»Bliebe ich doch nur bis zum Winter leben und dürfte zur Schule gehen«, sagte Anna.
In den Tagen der Armut, da war es nämlich so, daß die Kinder nur im Winter ein paar Wochen lang zur Schule gingen. Dann kam ein Schulmeister von irgendwoher gewandert und zog in eine Kate im Dorf ein, und dorthin kamen die Kinder von nah und fern, um lesen und rechnen zu lernen. Der Myrabauer meinte zwar, daß die Schule eine ganz dumme und unnütze Einrichtung sei, und wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätten die Kinder daheim im Stall bleiben müssen, aber das durfte sich selbst der Myrabauer nicht erlauben. Man kann Kinder von Borkenschiffchen fernhalten und von Spielstübchen und von Walderdbeeren im Gehölz, aber man darf sie nicht von der Schule fernhalten, denn dann kommt der Pfarrer des Dorfes und bestimmt:
»Matthias und Anna müssen zur Schule gehen.«
Und der Winter kam nach Myra, der Schnee fiel, und die Schnee-
wehen reichten fast bis hinauf zum Stallfenster. Drinnen in dem düsteren Stall tanzten Matthias und Anna vor Freude, und Anna sagte: »Denk nur, daß ich doch bis zum Winter leben blieb, und denk nur, morgen beginnt die Schule!«
Und Matthias sagte:
»He, ihr Feldmäuse alle miteinander, jetzt ist es Schluß mit den grauen Tagen auf Myra!«
Als sie am Abend in die Küche kamen, sagte der Myrabauer:
»Schule hin und Schule her! Aber gnade euch Gott, wenn ihr zur Melkzeit nicht wieder zu Hause seid!«
Am nächsten Morgen faßten sich Matthias und Anna bei der Hand und wanderten zur Schule. Es waren weite Wege zu gehen, denn zu der Zeit kümmerte es niemand, ob der Schulweg weit war oder kurz. Es wehte ein kalter Wind, Matthias und Anna froren so sehr,
daß ihnen die Nägel an den Zehen rissig wurden und die Nasen-spitzen feuerrot.
»Du, Matthias, deine Nase ist aber tüchtig rot«, sagte Anna.
»Und das ist dein Glück, denn sonst wärst du so grau wie die Feldmäuse im Stall.«
Freilich waren sie grau wie die Feldmäuse, Matthias und Anna, elendsgrau im Gesicht, elendsgrau die Kleider, grau war das Tuch, das Anna um die Schultern trug, und grau war das alte Lodenwams, das Matthias vom Myrabauern geerbt hatte. Aber jetzt waren sie ja auf dem Weg zur Schule, und dort gab es bestimmt nichts Graues, das glaubte Anna, in der Schule, da herrschte die rote Freude vom Morgen bis zum Abend. Und deshalb machte es auch nichts aus, daß sie hier auf dem Waldpfad wanderten wie zwei graue Feldmäuse und so erbärmlich froren in dem grimmigen Winterwetter.
Nun zeigte es sich aber, daß es in der Schule nicht ganz so lustig war, wie sie es sich gedacht hatten. Gewiß machte es Spaß, zusammen mit den anderen Kindern aus dem Dorf um den Kamin zu sitzen und sich durch die Wörter zu buchstabieren, aber schon am zweiten Tag schlug der Schulmeister Matthias mit einer Rute auf die Finger, weil er nicht stillsaß. Und als es Zeit war, das Frühstück zu essen, da schämten sich Matthias und Anna. Sie hatten nur ein paar kalte Kartoffeln, aber die anderen Kinder hatten Butterbrote mit Speck und Käse, und Joel, der Sohn des Krämers, hatte sogar Eierkuchen, ein ganzes Bündel voller Eierkuchen. Matthias und Anna starrten auf Joels Eierkuchen, bis ihre Augen ganz blank waren, und Joel sagte:
»Armeleutekinder, habt ihr noch nie richtiges Essen gesehen?«
Da seufzten Matthias und Anna, und sie schämten sich und wandten sich ab und antworteten nicht.
Nein, das Grau verschwand nicht, wie sie gehofft hatten. Doch sie wanderten jeden Tag getreulich zur Schule, wenn auch hohe
Schneewehen auf dem Weg lagen und ihre Nägel noch rissiger wurden, und wenn sie auch Armeleutekinder waren ohne Butterbrote und ohne Eierkuchen.
Und jeden Tag sagte der Myrabauer:
»Gnade euch Gott, wenn ihr nicht zur Melkzeit zu Hause seid!«
Und niemals hätten Matthias und Anna es gewagt, zu spät zum Melken zu kommen. Sie hasteten durch den Wald wie zwei kleine graue Feldmäuse auf dem Weg zu ihrem Mauseloch, sie waren so bange, zu spät
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