Märchen
ein Ende hat. Dann heißt es wieder zu Hause bleiben im Stall.«
Da sahen Matthias und Anna einander an und wurden blaß. Aber ein Tag war der letzte. Der letzte in der Schule und der letzte in Sonnenau.
»Gnade euch Gott, wenn ihr zur Melkzeit nicht zu Hause seid«, sagte der Myrabauer am letzten Tag genau wie alle anderen Tage auch.
Sie saßen um den Kamin in der Schule und buchstabierten sich zum letztenmal durch die Wörter. Zum letztenmal aßen sie ihre kalten Kartoffeln, und sie lächelten ein wenig, als Joel sagte:
»Armeleutekinder, habt ihr noch nie richtiges Essen gesehen?«
Sie lächelten, weil sie an Sonnenau dachten, wo sie sich bald satt essen würden. Und zum letztenmal huschten sie wie zwei kleine graue Feldmäuse den Waldpfad entlang. Es war der kälteste Tag des Winters, weißer Rauch kam ihnen aus dem Mund, wenn sie atmeten, und die Nägel an Fingern und Zehen rissen noch tiefer ein. Anna wickelte das Tuch so fest um die Schultern, wie sie nur konnte, und sagte:
»Mich friert, und hungrig bin ich, nie habe ich Schlimmeres erfahren in meinem Kinderleben.«
Es war so bitter kalt, und sie sehnten sich so sehr nach dem roten Vogel, der sie nach Sonnenau führen sollte. Und da saß er ja und war flammend rot gegen den weißen Schnee. Anna lachte vor Freude, als sie ihn sah.
»So darf ich doch noch ein letztes Mal zu meiner Sonnenau kommen!« sagte sie.
Der kurze Wintertag neigte sich seinem Ende zu, schon fiel die Dämmerung, bald würde die Nacht kommen. Doch der Vogel stob durch die Tannen dahin wie eine rote Fackel und sang, während er flog, daß im Wald der Kälte und der Stille tausend Schneesterne zu Boden schwebten. Nur der Vogel war zu hören, denn so eisig kalt war es, daß der Wald schwieg, das säuselnde Lied der Föhren war erstickt in der Kälte.
Kreuz und quer flog der Vogel, Matthias und Anna strebten ihm nach durch die Schneewehen, der Weg nach Sonnenau war so weit.
»Jetzt geht es gewiß zu Ende mit meinem Kinderleben«, sagte Anna. »Die Kälte holt mich, ehe ich bis nach Sonnenau komme.«
Doch der Vogel flog ihnen voraus, und schließlich standen sie vor der Pforte, die sie so gut kannten. Draußen lag der Schnee hoch, doch der Kirschbaum streckte seine blühenden weißen Zweige über die Mauer, und die Pforte stand einen Spaltbreit offen.
»Nie zuvor habe ich mich so gesehnt in meinem Kinderleben«, sagte Anna.
»Aber jetzt bist du da«, sagte Matthias, »jetzt brauchst du dich nicht mehr zu sehnen.«
»Nein, jetzt brauche ich mich nicht mehr zu sehnen«, sagte Anna. Und Matthias nahm sie bei der Hand und führte sie durch die Pforte, hinein zur Sonnenau des ewigen Frühlings, wo das zarte Birkenlaub duftete, wo in den Bäumen tausend kleine Vögel sangen und jubilierten, wo Kinder in Bächen und Gräben Borkenschiffchen schwimmen ließen und wo die Mutter auf der Wiese stand und rief: »Kommt, alle meine Kinder!«
Hinter ihnen lag der kalte, frostige Wald und erwartete die Winternacht. Anna schaute zurück durch die Pforte in die Finsternis und Kälte, und sie schauderte.
»Warum ist diese Pforte nicht geschlossen?« fragte sie.
»Ach, kleine Anna«, sagte Matthias, »wenn die Pforte geschlossen wird, kann sie nie wieder geöffnet werden. Weißt du das nicht mehr? «
»Doch, gewiß weiß ich das«, sagte Anna. »Nie, nie wieder.«
Da sahen sie einander an, Matthias und Anna. Sie sahen einander lange an, und dann lächelten sie ein bißchen. Und dann machten sie ganz sacht und leise die Pforte zu.
Die Puppe Mirabell
etzt will ich das Seltsamste, das ich in meinem ganzen Leben erlebt habe, erzählen.
J Es geschah vor zwei Jahren. Ich war damals erst sechs Jahre alt. Jetzt bin ich acht. Ich heiße Britta-Kajsa. Eigentlich gehört das aber nicht hierher. Mama und Papa und ich wohnen in einem kleinen Haus mit einem kleinen Garten drum herum. Unser Haus liegt ganz einsam. In unserer Nähe wohnen keine anderen Menschen. Aber vor unserem Haus ist eine schmale Landstraße, und ganz am Ende - weit weg - liegt die Stadt.
Papa ist Gärtner. Und jeden Mittwoch und Samstag fährt er in die Stadt und verkauft dort Gemüse und Blumen auf dem Markt.
Dafür bekommt er Geld. Aber nicht so sehr viel Geld. Mama sagt immer, es ist ganz unmöglich, mit dem Geld auszukommen.
Damals - vor zwei Jahren - wünschte ich mir so schrecklich, schrecklich, schrecklich eine Puppe. An den Markttagen durfte ich manchmal mit Mama und Papa in die Stadt fahren. Dicht am Markt ist ein großes
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