Märchensommer (German Edition)
des Grabsteins stand das Datum ihres Todes. 15. Dezember 2008 . Ich erinnerte mich daran, dass Marie gesagt hatte, sie waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Da war kein Foto von meinen Großeltern auf dem Marmorstein, doch in einer kleinen Vase stand ein Strauß frischer roter Rosen.
„Hast du die Blumen hier hingestellt?“, fragte ich Marie und merkte dabei, dass ich einen ganz trockenen Hals bekommen hatte.
„Die sind von deiner Mutter. Sie kommt jeden Tag hierher. Seit sie zurück nach Frankreich gekommen ist.“ Marie legte ihren Arm um meine Schultern und rieb mir sanft über den Oberarm. „Erinnerst du dich noch, wie ich dir vor ein paar Tagen erzählt habe, dass Charlene nicht hier war, als deine Großeltern gestorben sind? Sie hatte nie die Möglichkeit, sich mit ihnen auszusöhnen. Das ist furchtbar für deine Mutter. Sie wünscht sich jeden Tag, sie wäre schon viel früher zurückgekommen und hätte noch einmal mit ihnen reden können.“
Obwohl uns die Sonne in den Rücken schien, wurde mir plötzlich eisig kalt.
Marie drehte mich zu sich und legte mir beide Hände auf die Wangen. „Mein lieber Schatz. Bald wird das hier der einzige Ort sein, an dem du noch mit deiner Mutter reden kannst. Mach nicht denselben Fehler, den sie gemacht hat. Du wirst diejenige sein, die am Ende mit dem Schmerz weiterleben muss.“ In ihrer Stimme lag weder ein Vorwurf noch Ärger. Nur tiefes Bedauern.
Ich schloss meine Augen. Für einen kurzen Moment konnte ich bereits den Namen meiner Mutter in den Grabstein gehauen sehen. Und davor kniete ein Mädchen und stellte frische Blumen in die Vase daneben.
Meine Kehle schnürte sich zu. Zum ersten Mal nach so vielen Jahren brach ein längst vergessener Teil in mir auf, der nicht nur nach irgendeiner Mutter verlangte, sondern nach genau dieser wunderbaren Mom, die ich einst gekannt und bedingungslos geliebt hatte. Es war, als stünde ich nun vor dem Eingang zu einer dunklen Höhle, die ich bisher immer mit Sarkasmus und Zorn aufgefüllt hatte. Der Schmerz, den Marie gerade in mir lostrat, drohte mich zu überwältigen.
Ich verkniff mir die heißen Tränen und wich zurück. „Du hättest mich nicht hier herbringen sollen!“
„Oh nein, Liebes“, sagte sie sanft. „Nun wird mir klar, ich hätte dich schon viel früher herbringen sollen.“
23. Verbrannt
DIE LETZTEN SONNENSTRAHLEN dieses Nachmittags klopften an das Fenster, das ich gerade fertig geputzt hatte. Durch die Arbeit konnte ich mich ein wenig ablenken und musste nicht ständig über die Ereignisse von letzter Nacht und den Gefühlsausbruch auf dem Friedhof nachdenken.
Als Marie und ich vor zwei Stunden zurückgekommen waren, bewaffnete ich mich mit Eimer und Lappen und begab mich auf eine unermüdliche Putz-Tour. Das Küchenfenster über der Spüle stand als letztes auf meiner Liste und war nun wie alle anderen neunzehn Fenster im Haus blitzsauber. Der beißende Geruch von Glasreiniger hing noch in der Luft. Ich rubbelte meine juckende Nase.
Hinter mir erklang das Geräusch von Edelstahltöpfen, die aneinander schlugen. Erst dachte ich, Lou-Lou hätte mit ihrem Schwanz etwas von der Anrichte gefegt, doch als ich mich umdrehte, lag die faule Hundedame reglos unter dem Tisch und beobachtete mich mit großen braunen Kulleraugen.
Offenbar hatte Marie den Lärm verursacht. Sie kniete am Fußboden und holte einen großen Topf und eine Auflaufform aus einem der Küchenschränke. Ich brachte das Putzzeug schnell rüber in die Abstellkammer und half meiner Tante anschließend beim Kochen. Während ich einen kleinen Berg Kartoffeln schälte und diese dann in kochendes Wasser warf, bereitete sie einige Fischfilets zum Braten vor.
„Du bist sehr still heute“, sagte Marie und wischte sich dabei die Hände in ihrer Kochschürze ab. „Ist alles in Ordnung?“
Ich nickte kurz, gab aber nicht mehr von meinen Gedanken preis. Während ich es an diesem Nachmittag geschafft hatte, meine Mutter größtenteils aus meinen Gedanken zu verbannen, war ich bei Julian weniger erfolgreich gewesen. Unsere Unterhaltung von gestern Nacht verfolgte mich noch immer.
Er und meine Mutter waren schon ziemlich lange weg. Fast den ganzen Tag. Welcher Arzt hatte eine so lange Warteschlange in der Praxis? Und noch dazu an einem Sonntag. Mir kam der Verdacht, dass Julian meine Mutter noch woanders hingebracht hatte. Vielleicht um zu reden? Wer weiß, womöglich erzählte er ihr gerade, dass ich dabei war, hinter sein
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