Märchensommer (German Edition)
mir.“
Na endlich. Zumindest ein kleiner Anflug von Sarkasmus. „Hör zu“, sagte ich heiser und knetete dabei den Stoff meines Kleides. „Das ist etwas Vertrauliches, und ich hätte die Liste“ —mit einem verlegenen Husten verbesserte ich mich selbst schnell— „den Zettel jetzt wirklich gerne wieder.“
Er sah mich für einen unerträglich langen Moment einfach nur an. Schließlich fragte er leise: „Jona, als du all diese Dinge über mich aufgeschrieben hast, was dachtest du, was ich bin? Irgendeine Art Zauberer?“
Nein. Superman.
„Das weiß ich selbst nicht.“ Noch nicht. „Aber ganz offensichtlich stimmt mit dir etwas nicht.“ So nahe bei ihm konnte ich erkennen, wie er eine Augenbraue fragend nach oben zog. „Du tust Dinge … mit mir und auch mit anderen … die einfach unmöglich erscheinen.“
„Wie zum Beispiel, eine tote Ente wieder zum Leben zu erwecken?“ Zur besseren Veranschaulichung drehte er die Liste in seinen Händen um, sodass ich nun meine eigene Schrift auf dem weißen Papier erkennen konnte.
Ich stand wie angewurzelt da und ertrug stillschweigend den grauenvollen Schauer, der mir gerade den Rücken hinunterlief. „Du musst zugeben, dass all diese Dinge auf der Liste wirklich passiert sind. Du hast ganz offensichtlich irgendwelche Superkräfte. Und ich verstehe nicht, warum du mir nicht die Wahrheit sagst.“
Wenn ich nicht gleich meinen Mund hielt, würde ich wohl bald die Möglichkeit bekommen, eine Gummizelle von innen zu sehen.
„Die Wahrheit? Jona, du redest dir hier etwas ein.“
„Lügner!“, schoss es aus mir heraus. Der Beweis für seine Lügen hallte in jedem einzelnen seiner Worte mit, spiegelte sich in seinem verhärteten Gesichtsausdruck, seinen zusammengebissenen Zähnen und wie er gerade einen kleinen Schritt zurück machte. „Es ist egal, dass du dich kleidest wie ein ganz normaler Junge und versuchst, unauffällig zu wirken. Mich führst du nicht länger an der Nase herum!“ Ich riss ihm die Liste aus der Hand. Das Blatt riss dabei ein, doch das war mir egal. „Ich bin nicht so blind wie Lois Lane!“
Julian sah mich verwirrt an. „Lois wer?“
„Ah, vergiss es!“ Dann war er eben nicht Superman. Aber irgendwas war an dem Burschen faul. „Wichtig ist nur, ich hab dich durchschaut. Du kannst die Wahrheit also endlich ausspucken.“
Leise lachte er, doch da war kein Humor in seiner Stimme. „Hast du heute Abend etwas getrunken?“
„Argh!“
Derselbe Mann, der mir vorhin gerade gesagt hatte, dass er sich in mich verliebt hatte, vertraute mir offenbar nicht genug, um mich in sein Geheimnis einzuweihen. Seine Lügen und die Ruhe, mit der er versuchte, mich als verrückt hinzustellen, frustrierten mich ohne Ende. Ich biss die Zähne fest aufeinander, um ihn nicht gleich anzuschreien. Denn was hätte das jetzt noch für einen Sinn? Er hatte seine Entscheidung getroffen. Ich war ihm die Wahrheit nicht wert.
„Es ist spät“, knurrte ich resignierend. Mir rauchte der Kopf. Ich brauchte eine Pause. „Ich bin müde und du solltest gehen und Charlene Gesellschaft leisten. Wir können morgen weiter darüber reden.“ Wenn ich wieder klar denken konnte und nicht ständig von seinen sinnlichen Lippen abgelenkt wäre.
„Da ist nichts, worüber wir reden müssen.“
Ein langes Seufzen kroch aus meiner Kehle. „Na schön. Wenn du das sagst.“ Mit hängendem Kopf wanderte ich zurück ins Haus und rauf in mein Zimmer.
Das Chaos auf dem Fußboden musste bis morgen warten. Heute Nacht war ich zu erschöpft, um noch aufzuräumen. Die Schwäche, die in den letzten Minuten über mich gekommen war, fühlte sich merkwürdig und unecht an. Wieder wunderte ich mich, ob Julians Hokuspokus etwas damit zu tun hatte. Ich ließ mich voll bekleidet aufs Bett fallen und verschob das Grübeln auf morgen. Heute Nacht wollte ich nur noch schlafen.
Als ich aufwachte, war der Morgen bereits vorüber und die Mittagssonne schien zum Fenster herein. Ich war in meine Decke eingewickelt und Maries Sandalen standen auf dem Fußboden vor meinem Bett. Die Balkontür stand immer noch offen. Vermutlich war Julian gekommen und hatte mir die Schuhe ausgezogen, während ich geschlafen hatte. Schwer zu sagen, was mich gerade mehr ärgerte. Die Tatsache, dass er hier jederzeit ein- und ausging, wie es ihm passte, oder dass er sich in einem Moment rührend um mich kümmerte und mir im nächsten nicht einmal das kleinste bisschen Vertrauen entgegenbringen konnte.
Nach
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