Märchensommer (German Edition)
Ich vermisste mein Leben, so wie es bis vor kurzem war. So wie ich bis vor Kurzem war. Eiskalt und ohne Gefühle.
Doch wie sollte ich nach dem heutigen Kuss jemals wieder in der Lage sein, zu meinem distanzierten Selbst zurückzukehren? Ein feiner Kokoscreme-Geschmack hing noch immer an meinen Lippen. Ich krallte meine Finger in mein Haar und zog genervt an den Strähnen. Wenn ich doch nur die Erinnerung an Julians samtigen Kuss aus meinem Gedächtnis streichen könnte. Aber so sehr ich es auch versuchte, es funktionierte nicht. Jedes auch noch so kleine Detail seines Gesichts, wie er näher kam, jede auch noch so zarte Berührung seiner Zunge … All das war für immer in meine Erinnerung gebrannt.
Frustriert bis aufs Blut kehrte ich mit einer einzigen Armbewegung die gesamte Ansammlung von Büchern, Stiften und Papier von meinem Tisch. Alles rasselte zu Boden und kullerte herum. Auch Julians Liste lag unter dem ganzen Zeug. Eine Ecke davon lugte unter Der Herr der Ringe hervor. Ich kickte das Buch zur Seite und hob den Zettel auf.
-INJIZIERT GLÜCKSGEFÜHL
-ERWECKT DEN DRACHEN VON DEN TOTEN
-KANN 5 METER HOCH SPRINGEN
-HAT HEUTE ENTE WIEDERBELEBT
Oh komm schon, Dummerchen, in welcher Märchenwelt lebst du eigentlich? Julian hatte mich wohl völlig um den Verstand gebracht. Warum führte ich überhaupt eine Liste über seine seltsamen Fähigkeiten. Es war ja nicht so, als würde mir jemals einer glauben, dass im Zimmer nebenan ein fliegender Wunderheiler lebte.
Ich schnaubte wild durch die Nase und zerknüllte dabei die Liste auf die Größe eines Golfballes. „Verdammter Scheißdreck!“ Mit all der Kraft, die ich aufbringen konnte, feuerte ich den kleinen Papierball an die Wand über meinem Tisch.
Nur flog er leider nicht dahin, wo ich wollte.
„Huch!“ Der Ball schoss geradewegs durchs Fenster und weit über den Balkon. Ich schlug beide Hände vors Gesicht und stöhnte entsetzt.
Großartig. Jetzt lag der Beweis für meinen Wahnsinn mitten in Maries Garten.
In Panik jemand könnte den Zettel finden und lesen, stürmte ich aus meinem Zimmer und hetzte die Treppe hinunter. Abgesehen von ein paar seidigen Strahlen des Mondlichts, das durch die Bäume schien, war es hier draußen stockdunkel. Das taunasse Gras war lang genug, um den Ball zu verschlucken, und kitzelte mich zwischen den Riemchen der Sandalen, als ich langsam quer über den Rasen ging und nach dem Papierknäuel Ausschau hielt. „Oh bitte, du verdammtes Mistding. Wo steckst du?“, grummelte ich.
„Suchst du das hier?“
Entsetzt schnappte ich nach Luft. Das Geräusch hallte unheimlich durch die dunkle Nacht. Als ich mich umdrehte, fand ich Julian in einem der Klappstühle sitzen. Es war zu dunkel, um sein Gesicht zu erkennen, doch das weiße Papier in seiner Hand leuchtete unheilvoll im Mondlicht.
Verdammt, was machte er hier? Er sollte doch längst wieder auf der Geburtstagsfeier sein und mich hier nicht zu Tode erschrecken.
Ich hielt mir die Hand vor den Mund und hustete unschuldig. Gott sei Dank konnte er in der Dunkelheit mein flammendes Gesicht genauso wenig erkennen wie ich seins. „Der Zettel ist nicht rein zufällig gerade vom Balkon gefallen?“
„Das ist er in der Tat.“
Oh nein. Und auseinandergefaltet war er auch. Er hatte ihn sicher gelesen. Ich leckte mir über die trockenen Lippen und verlagerte mein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Du sollst nicht das Zeug aufheben, das andere weggeworfen haben. So etwas tut man nicht.“
„Er ist mir direkt in den Schoß gefallen. Was verlangt denn die Etikette in diesem Fall?“ In seiner Stimme war keine bestimmte Emotion erkennbar, was mich irgendwie noch mehr beunruhigte, als wenn er mich einfach angeschrien hätte.
„Kann ich den Zettel bitte wiederhaben?“, fragte ich kleinlaut.
Julian schwieg. Er stand von seinem Stuhl auf und kam langsam auf mich zu. Dabei waren nur sein weißes Hemd und das blonde Haar erkennbar. Zwei Schritte vor mir machte er Halt und hielt die Liste mit beiden Händen fest. Seine Lippen krümmten sich dabei auf so süße Weise, dass ich nichts lieber wollte, als ihn noch einmal zu küssen.
„Warum willst du ihn zurück? Ist dir noch ein Detail eingefallen, das du gerne dazuschreiben möchtest?“
Ich schluckte laut.
„Aber ich muss zugeben, du bist echt kreativ“, fuhr er fort. Er klang dabei so gleichgültig, als würde ihn meine Liste nicht im Geringsten stören. „ Julians gruselige Fähigkeiten. Der Titel gefällt
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