Märchensommer (German Edition)
sehen. Vielleicht war ja Lou-Lou hier drinnen gewesen und hatte mit ihrem Schwanz—
Nein. Lou-Lou war das nicht.
Vor mir lag jemand auf dem Boden. Reglos. Bedeckt mit Glasscherben und Blut.
Mein Herz blieb stehen. Ich drehte mich im Stand um, blickte zur Tür und dann wieder zu Charlene. Mit eingekrallten Fingern fuhr ich mir durchs Haar und hielt mir die andere Hand vor den Mund. Eine seltsame Stille drückte gegen mein Trommelfell. Was um alles in der Welt sollte ich jetzt tun?
Geh zurück in dein Zimmer.
Schließ die Tür.
Tu so, als wäre nichts passiert.
Ja, das könnte ich machen. Ich könnte Charlene einfach ignorieren, hochgehen und abwarten, bis meine Familie nach Hause kam. Julian würde wissen, was zu tun war. Er würde ihr wieder neue Kraft einhauchen. So wie er es schon die ganze Zeit getan hatte. Sein routinemäßiger Kontrollblick nach ihr war sowieso schon längst überfällig.
Sekunden verstrichen und Panik legte sich wie eine Schlinge um meinen Hals. Wo steckte er nur?
Und was, wenn er gar nicht kommen würde?
Das war’s. Sie ist tot. Es ist vorbei. Du kannst wieder atmen.
Mit dem ersten tiefen Atemzug sprangen mir Tränen in die Augen. Der Name meiner Mutter kreiste wie Blaulicht in meinen Gedanken. Ich wollte sie rufen, doch selbst dieses einfache Wort ging auf dem Weg zu meinem Mund verloren. Es kam nur ein leises Krächzen aus meiner Kehle.
Jeder Augenblick, der vorbeizog, kam mir vor wie eine Ewigkeit, als ich auf den leblosen Körper vor mir starrte. Es war, als würde ich bereits hinunter in das offene Grab meiner Mutter blicken. Mir wurde eiskalt.
„Willst du wirklich, dass deine Mutter mit einem gebrochenen Herzen stirbt?“
Wer hatte das gesagt? Ich wirbelte herum. Aber hinter mir war niemand. Dann wurde mir klar, dass es nur Julians Worte waren, die in meinem Gedächtnis nachhallten. Und mit den Worten kam plötzlich die erste Erinnerung in mir hoch, die ich an meine Kindheit hatte. Ich erinnerte mich an glückliche Momente mit meiner Mutter. Sie hielt mich im Arm und streichelte mein Haar, drehte mich in der Küche wie eine kleine Ballerina immer und immer wieder im Kreis. Wir lachten und tanzten gemeinsam, wenn ihr gewalttätiger Freund nicht zu Hause war und es für ein paar Stunden lang nur uns beide gab.
Ich erinnerte mich an Schokoladenkuchen. Ein Schlaflied. Und einen Gutenachtkuss. Sogar das rote Kleid, das sie für meinen ersten Schultag genäht hatte, konnte ich klar vor meinen Augen sehen. Ich musste eine ganze Woche lang betteln, bis sie mir auch endlich diese wunderschönen roten Lackschuhe dazu gekauft hatte.
Die Frau, die dort am Boden lag, war meine Mom.
Sie war diejenige, die mir das Leben geschenkt hatte. Ein großer Teil dieses Lebens war zwar katastrophal gewesen, doch sie hatte versucht, es wieder geradezurücken, indem sie mich hierher nach Frankreich gebracht hatte, zu Menschen, die mich nur aus dem unscheinbaren Grund liebten, weil ich zur Familie gehörte. Und ich liebte diese Familie genauso.
Ich wollte nicht, dass meine Mutter starb. Oder an Krebs litt und so schlimme Schmerzen ertragen musste. Und am allerwenigsten wollte ich weiter böse auf sie sein. Alles, was ich in diesem Moment wollte, war, Frieden zu finden—für mich und für diese Frau, die ich vor so vielen Jahren bedingungslos geliebt hatte.
Ich stolperte durch die Glasscherben an ihre Seite. „Charlene?“ Meine Stimme brach und ich versuchte es noch einmal. „Charlene! Kannst du mich hören? Mom?“
Vorsichtig wischte ich ihr die kleinen Splitter und Stirnfransen vom Gesicht. Da stieg mir ein grauenvoller Geruch in die Nase. Sie hatte Spuren von Erbrochenem um ihren Mund und auch auf ihrem Hemd. Zwei blutrote Striemen flossen aus ihrer Nase über ihre Oberlippe und tropften nach unten auf den Boden. Die Haut in ihrem Gesicht und auf ihren Händen war mit kleinsten Schnittwunden übersät.
Ich legte meine Hand auf ihre Wange. Sie glühte. Aber zumindest hob und senkte sich ihre Brust mit regelmäßigen Atemzügen. „Mom? Bitte, sieh mich an! Wenn du mich hörst, sag etwas.“
Meine Mutter blieb still.
Mit einiger Mühe schaffte ich es, ihren Oberkörper aufzurichten. Am Boden kniend hielt ich sie an meine Brust gedrückt. Endlich öffnete sie ihre Augen. Erleichtert atmete ich aus. „Du hast mich ganz schön erschreckt.“
Einige Sekunden lang sah sie mich an. Erstaunt leuchteten dabei ihre Augen. Doch nur kurz. Dann machte sie sie wieder zu und stöhnte müde.
Ich
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