Märchensommer (German Edition)
ihn nicht los. Stattdessen zog sich der Faden endlos in die Länge. Schließlich beschloss ich, den Verband ganz abzunehmen. Meine Hand tat ja sowieso nicht weh.
Langsam wickelte ich die Mullbinde ab, doch ich wurde immer schneller, als ich feststellte, dass darunter nicht die kleinste Wunde, ja nicht einmal eine Rötung zu sehen war. Ich drehte meine Hand im Licht und betrachtete sie ganz genau. Als ich mit der anderen Hand darüber strich, spürte ich nicht den geringsten Schmerz. Unglaublich. Julian hatte gesagt, ich hätte mir kochendes Wasser darüber geschüttet. Da musste doch irgendetwas zu sehen sein. Aber meine Hand sah aus, als wäre absolut gar nichts passiert.
Denk nach.
Die Geschichte, die mir Julian gestern erzählt hatte, kam mir überhaupt nicht bekannt vor. Nicht ein kleines Detail davon. Was wäre also, wenn die Dinge sich gar nicht so ereignet hatten? Andererseits waren alle furchtbar aufgeregt gewesen, als wir nach Hause gekommen waren, und hatten mich mit Fragen bombardiert. Meine Familie hatte bestimmt gesehen, wie ich mir die Hand verbrannt hatte und wie Julian mit mir losgefahren war.
Und wieder einmal fiel alles zurück auf Julian. Etwas musste passiert sein, von dem er mir nichts erzählen wollte. Oh Mann, würde der Bursche jemals einen Sinn für mich ergeben? Und wann, zum Teufel, hatte er eigentlich vor, endlich heimzukommen? Er hätte bereits vor einer Stunde hier sein sollen. Das machte er doch sonst auch jeden Tag. Wenn er seine unheimlichen Alienkräfte eingesetzt hätte, um meine Mutter zu stärken, wäre sie bestimmt nicht zusammengebrochen.
Wütend stand ich vom Boden auf und schnaubte durch die Nase. Na, wenn der zurückkam—dem würde ich ordentlich die Meinung sagen!
Ich knüllte den Verband zusammen und warf ihn mit den Scherben in den Mülleimer unter der Spüle. Dabei kam mir ein Gedanke. Wenn Julian mir nicht sagen wollte, was hier gespielt wurde, dann würde ich meine Antworten vielleicht von jemand anderem bekommen. Ich lehnte den Besen an die Wand neben der Tür und marschierte entschlossen zurück in das Zimmer meiner Mutter.
Leider schlief sie bereits tief und fest, als ich eintrat. Ihre Brust hob und senkte sich in einem ruhigen Intervall. Mitten im Raum blieb ich stehen und überlegte, was ich nun machen sollte. Entweder würde ich umkehren und mich nicht weiter um sie kümmern oder ich könnte mich an ihr Bett setzen und über ihren Schlaf wachen. Immerhin konnte es ja sein, dass ihr wieder übel werden würde und sie sich übergeben müsste. Dann bräuchte sie doch Hilfe. Nicht wahr?
Langsam und leise setzte ich mich auf die Bettkante. Meine Mutter seufzte, doch sie wachte nicht auf. Ich lehnte mich mit dem Rücken an das Kopfende, streckte ein Bein auf der Matratze aus und ließ das andere von der Kante baumeln. Schwer zu sagen, wie lange ich so dagesessen und ihr beim Schlafen zugesehen hatte. Doch mit einer leisen Melodie auf den Lippen—es war das Lied, das sie mir als Kind vorm Schlafengehen immer vorgesungen und das Julian für mich auf dem Klavier gespielt hatte—kippte mein Kopf schließlich nach vorn und ich nickte ein.
Das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden, weckte mich nur wenig später. Die Augen meiner Mutter waren immer noch friedlich geschlossen. Ein stechender Schmerz schoss mir ins Genick, als ich den Kopf hob und mich im Zimmer umblickte.
Julian stand in der Tür.
Er hatte seine Daumen durch die Gürtelschlaufen seiner Jeans gehakt und lehnte mit dem Kopf und mit einer Schulter am Türrahmen. Er beobachtete mich wohl schon eine ganze Weile.
Sollte ich froh sein, dass er endlich hier war, oder böse, weil er nicht schon früher aufgetaucht war? Während ich darüber nachdachte, lehnte ich meinen Kopf zurück an die Wand hinter mir und sah ihn durch meine Wimpern hindurch an. Meine Unterlippe hatte ich zwischen meinen Zähnen gefangen und so entwich mir ein kapitulierendes Seufzen. „Wo warst du so lange?“
Die Sehnsucht in seinen Augen war greifbar. Ich wünschte mir, er würde näher kommen, sodass ich meine Arme um seinen Hals legen und mein Gesicht in seiner Schulter vergraben konnte.
„Draußen.“ Seine sanftmütige Stimme schwebte durch den Raum. „Ich musste euch doch Zeit geben.“
Meine Mutter regte sich leicht neben mir. Wahrscheinlich fühlte sie seine Anwesenheit. Wer würde das nicht? Es war, als würden mit jedem Atemzug Wellen seiner Aura in mich eindringen. Dasselbe konnte vermutlich auch meine Mutter
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