Märchensommer (German Edition)
spüren. Vielleicht hatte sie nach ihrer Unterhaltung gestern auch Angst vor ihm. Schließlich hatte sie selbst gemeint, dass ihre Zeit um sei.
„Wird sie sterben?“, fragte ich ihn leise.
„Nicht heute.“
Also lagen Leben und Tod tatsächlich in seiner Hand. Oh Mann. Ich atmete tief durch. Das war alles so unfassbar. Und doch stand er da und versuchte ausnahmsweise mal nicht, mich als verrückt hinzustellen. Würde er jetzt endlich mit der Wahrheit rausrücken? Auf jeden Fall war es Zeit, nach ein paar Antworten zu graben. Doch ich fand weder den Mut noch die richtigen Wort, um anzufangen.
Nach einer langen, stillen Minute richtete sich Julian auf. Er nickte zu meiner Hand. „Du hast den Verband abgenommen.“
Ich drehte meine Hand erneut vor meinen Augen und ließ sie dann wieder in meinen Schoß fallen. „Ja. Sieht so aus, als wäre alles verheilt. Du hast nicht zufällig etwas damit zu tun, oder?“
Ein schwaches Lächeln zog an seinen Mundwinkeln und brachte mein Herz zum Flattern. Er streckte mir eine Hand entgegen. „Komm! Gehen wir ein Stück spazieren.“
Der Fremdling war also tatsächlich bereit zu reden. Vorsichtig erhob ich mich vom Bett und steuerte auf Julian zu. Ein Gefühl der Wärme breitete sich in mir aus, als er seine Hand um meine schloss. Bevor wir das Zimmer verließen, blickte ich jedoch noch einmal über meine Schulter. „Was ist, wenn sie aufwacht, während wir weg sind?“
„Mach dir keine Sorgen. Sie wird so lange schlafen, bis ich sie zurückhole.“
Oh-kaaaay. Wenn er das sagte …
Die Gelassenheit, die von Julian ausging, schlängelte sich in einer Spirale um mich, bis ich ganz und gar von dieser seltsamen Ruhe eingeschlossen war. Plötzlich kam es mir vor, als wäre ich ein kleines Kind an der Hand eines viel älteren und weiseren Wesens, als ich jemals begreifen konnte. Ein Wesen, dass über Leben und Tod entscheiden konnte, über schlafen und wachen. Jemand, der Wunden in einem Augenblick heilen konnte, mit einer einfachen Berührung Glückseligkeit auslöste und der, wenn mich nicht alles täuschte, sogar im Stande war zu fliegen.
Wenn er nicht diese immens friedvolle Ruhe ausstrahlen würde, würde ich mir wahrscheinlich vor Angst in die Hosen machen. Doch im Moment blickte ich nur mit Bewunderung in Julians Augen.
Er führte mich hinaus und an den Weinbergen vorbei. Dabei winkte er Marie und rief ihr zu, dass wir nur einen kleinen Spaziergang machten und rechtzeitig zum Abendessen zurück seien. Hinter den Weinbergen lag ein kleines Wäldchen. Im Schatten der vielen Fichten und Tannen bekam ich eine Gänsehaut, die mich daran erinnerte, dass ich gerade im Begriff war, die Zivilisation hinter mir zu lassen und mit einem Alien an meiner Seite irgendwohin zu spazieren, wo uns vermutlich niemand hören oder sehen konnte.
Julian warf mir seitlich einen skeptischen Blick zu. „Ist dir kalt?“
„Nur ein bisschen.“
Von dort, wo sich unsere Handflächen berührten, breitete sich ein Schwall Wärme aus, der langsam meinen Arm hochkroch und dann mit jedem Herzschlag weiter in meine Glieder gepumpt wurde.
„Wie machst du das?“ Zu meiner eigenen Überraschung hörte ich mich gar nicht ängstlich an, sondern nur tief beeindruckt. Es kam mir auch in den Sinn, dass er wieder seinen Hokuspokus benutzte, um mich ruhig zu halten. Weil das Gefühl so angenehm und erleichternd war, hätte es mir aber auch nichts ausgemacht, wenn es so wäre.
Julian gab mir keine Antwort. Doch als wir den Wald hinter uns ließen und auf eine weite Wiese traten, festigte sich sein Griff um meine Hand. „Jona, kann ich dich was fragen?“
Ich zog meine Beine durch das kniehohe Gras und nickte in der Hoffnung, dass ich hinterher auch meine Fragen stellen durfte.
„Als du deine Mutter und mich gestern Nacht belauscht hast und natürlich auch in Anbetracht der Liste, die du ja schon seit einiger Zeit über mich führst … was dachtest du, was ich bin?“
Vorsicht schlich sich in meinen Tonfall. Ich sah ihn aus meinem Augenwinkel an. „Musst du mich töten, wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege? Denn dann würde ich es dir lieber nicht sagen.“
Julian verdrehte die Augen. „Natürlich nicht, Dummerchen. Wie kommst du nur auf solche Ideen?“ Er hob die Hand, mit der er meine hielt, und legte seinen Arm um meine Schultern. Mein eigener Arm hing quer über meiner Brust. So drückte er mich fester an sich und wir spazierten weiter.
„Okay“, sagte ich, immer noch vorsichtig.
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