Märchensommer (German Edition)
Zentimeter zurückwich, um mir in die Augen zu sehen, fühlte sich der Trennungsschmerz an wie tausend Lanzen, die durch meinen Körper gebohrt wurden.
„Ich liebe dich, Jona“, flüsterte er, sodass nur ich und die Sterne ihn hören konnten.
Tief in mir erkannte ich, dass auch ich ihn liebte, egal, wer oder was er war. Doch noch nie zuvor hatte ich diese Worte zu jemandem gesagt. Und ganz gleich, wie lange Julian auf meine Antwort wartete, ich konnte sie auch jetzt nicht aussprechen. Mein Hals war trocken und eng, meine Brust tat beim Atmen weh. Ich wollte, dass er wusste, was ich für ihn fühlte, doch ich konnte meine Angst in diesem Moment nicht überwinden.
Julian stieß einen langen, schmerzlichen Seufzer aus. Er schloss die Augen und küsste mich noch einmal sanft auf die Lippen. Dann trat er zurück, drehte sich um und ging mit hängenden Schultern über den Balkon in sein Zimmer. Ich wollte ihm nachlaufen, ihn aufhalten und in meine Arme schließen. Doch ich war gefangen in dem Fort, das ich jahrelang um mich selbst errichtet hatte, und so konnte ich nur hilflos zusehen, wie Julian durch die wehenden Vorhänge verschwand.
25. Sie hat sie alle vom Tisch gefegt
„SECHSUNDVIERZIG FLASCHEN WEIN in der Box. Sechsundvierzig Flaschen Wein. Nimm eine raus und tauch sie ins Wasser … Fünfundvierzig Flaschen Wein in der Box“, sang ich vor mich hin und spülte eine leere Flasche nach der anderen—mit nur einer Hand—in dem mittlerweile nur noch lauwarmen Wasser in der Spüle.
Zwei Stunden stand ich schon hier und machte nichts anderes. Wenn die Flaschen sauber waren, stellte ich sie zu den anderen auf den Tisch zum Trocknen. Wegen meiner verletzten Hand, die übrigens immer noch schmerzfrei war, erlaubte mir Marie heute Morgen nicht, mit den anderen in die Weinberge zu gehen. Dreck könne unter den Verband kommen, hatte sie gemeint und mir dann die langweilige Aufgabe übertragen, all die staubigen Flaschen auszuspülen, die Albert aus dem Keller geholt hatte.
Auf manchen der Flaschen hatte sich mehr Staub angesammelt als auf Captain Blackbeards Rumflasche. Ich schwenkte jede einzelne von ihnen so lange hin und her, bis sie blitzblank waren. Bald würden sie mit neuem Wein der diesjährigen Saison gefüllt werden.
Ich hatte erst gut die Hälfte der Flaschen gewaschen, doch meine Blase drückte unangenehm, und so machte ich erst mal eine Pause. Als ich in mein Zimmer lief, ging die Tür meiner Mutter auf. „Julian, bist du das?“, fragte sie heiser.
„Nein“, brummte ich und lief weiter, ohne mich nach ihr umzudrehen. Oben schlug ich die Tür hinter mir zu und eilte ins Bad.
Wozu brauchte sie ihn denn schon wieder? Wollte sie mit dem Alien wieder über mich diskutieren? Wegen mir streiten? Wenn sie ihm was zu sagen hatte, musste sie schon warten, bis er zurückkam, oder ihn selbst draußen in den Weinbergen suchen. Ich würde ihn ganz bestimmt nicht für sie holen. Nicht nachdem er heute Morgen einfach so, ohne ein Wort zu sagen, an mir vorbei und zur Tür hinaus marschiert war.
Ein paar Minuten später machte ich mich wieder auf in die Küche, doch auf halber Strecke fiel mir ein, dass ich eigentlich auch mein T-Shirt wechseln könnte. Es war von der ganzen Planscherei ziemlich nass geworden und klebte ekelhaft an meiner Haut. Ich machte kehrt und stapfte wieder in mein Zimmer.
Im Erdgeschoß ging wieder eine Tür auf und die panische Stimme meiner Mutter drang zu mir nach oben. „Marie?“
„Oh bitte, du weißt ganz genau, dass sie nicht da ist“, meckerte ich vor mich hin und knöpfte mir ein frisches Hemd zu. Dann ging ich raus in den Flur, lehnte mich über die Brüstung und rief genervt: „Marie ist draußen auf dem Feld! Sie sind alle draußen!“
In diesem Moment schallte das fürchterliche Geräusch von klirrendem Glas durch das ganze Haus. Ich bekam eine Gänsehaut. Wenn Charlene die ganzen Flaschen zerbrochen hatte, die ich heute so mühevoll gewaschen hatte, dann gnade ihr Gott. Den Mist konnte sie selber wegräumen.
Zähneknirschend rannte ich die gewundene Treppe hinunter und durch den Flur. Das erste, das mir ins Auge sprang, als ich in der Tür zur Küche stehen blieb, waren fünfundsiebzigmillionen kleine grüne Glasscherben, die überall auf dem Boden verstreut waren.
„Scheiße! Was hast du getan?!“ Ich machte ein paar vorsichtige Schritte in die Küche. Das Glas knirschte unter meinen Schuhsohlen. Doch auf den ersten Blick konnte ich meine Mutter nirgends
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