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Märchensommer (German Edition)

Märchensommer (German Edition)

Titel: Märchensommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katmore
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musste sie irgendwie in ihr Zimmer schaffen. Sie brauchte unbedingt Ruhe und eine weiche Unterlage. Und Julian …
    Unter Einsatz all meiner Kräfte schaffte ich es schließlich, sie hochzuziehen. Ihren Arm um meine Schultern gelegt, schleppte ich sie durch das grüne Meer aus Glasscheiben raus in den Flur und rüber in ihr Zimmer. Dort ließ ich sie auf dem Bett nieder und begann, ihr Hemd aufzuknöpfen.
    „Nicht—“
    Ihr schwacher Protest konnte mich nicht aufhalten. Jetzt war nicht die Zeit für eine Diskussion. Als sie jedoch halbnackt vor mir lag, bekam ich einen Schreck. Unter ihren Kleidern war von Charlene nichts außer Haut und Knochen übrig. Hätte ich sie nicht in den letzten Wochen mit eigenen Augen herumlaufen gesehen, hätte ich geschworen, dass diese Frau bereits tot war.
    Auf ihrem Nachttisch stand ein Glas Wasser, das ich ihr nun an die Lippen hielt. Sie machte ein paar zaghafte Schlucke. Zumindest würde sie damit den grauenhaften Geschmack in ihrem Mund loswerden.
    Als Nächstes holte ich ein frisches Hemd aus ihrem Schrank und zog es ihr vorsichtig über. Dann öffnete ich das Fenster, um frische Luft in den Raum zu lassen. Es roch hier übel nach Erbrochenem. Der Grund dafür war ein Eimer, der neben ihrem Bett stand. Sie hatte sich wohl vorhin darüber übergeben.
    Ich leerte den Eimer in der Toilette und nahm auf dem Rückweg einen nassen Waschlappen mit. Damit wischte ich ihr sanft über ihr zerschnittenes Gesicht. Langsam öffnete sie noch einmal die Augen und sah mich an. Sie streckte mir eine schwache, zittrige Hand entgegen.
    Ich war zu erschöpft, um das Seufzen in meinem Hals zu ersticken. Auf ihren Wunsch hin setzte ich mich auf die Bettkante. Ihre Hand war kalt und schweißnass. Das war unsere erste Berührung seit über zwölf Jahren. Nichts war von den weichen, sanften Fingern übrig geblieben, mit denen sie mir damals immer übers Haar gestreichelt hatte.
    Charlene öffnete den Mund, aber sie war zu schwach, um auch nur einen Ton hervorzubringen.
    „Ist schon gut, Mom“, beruhigte ich sie. „Es geht dir bald besser.“ Wenn Julian endlich nach Hause käme. Ich warf einen sehnlichen Blick zur leeren Türschwelle.
    Die Kraft, mit der sie versuchte meine Hand zu drücken, hätte nicht einmal gereicht, um eine Ameise zu zerquetschen. Eine einsame Träne rollte ihre Wange hinunter, als sie sich um ein kleines Lächeln bemühte.
    Dabei merkte ich, dass ich die ganze Zeit schon mit meinen eigenen Tränen kämpfte. Ich konnte doch vor ihr nicht weinen. „Versuch ein wenig zu schlafen“, sagte ich heißer. „Ich werde inzwischen saubermachen und komm dann wieder her.“
    Froh um eine Ausrede, das Zimmer verlassen zu können, stand ich auf und ging in die Küche. Mit einem Besen und einer kleinen Schaufel beseitigte ich den Scherbenhaufen. Ich war dankbar, dass ich mich mit der Arbeit ablenken konnte. Die Alternative wäre gewesen, zurück zu meiner Mutter zu gehen. Doch in meinem Kopf drehte sich gerade alles. Ich musste mich erst beruhigen und die Kontrolle über mich selbst zurückgewinnen.
    Vorhin, als ich sie reglos am Boden liegen sah und dachte, ich hätte sie bereits verloren, hatte ich herausgefunden, dass ich ihr trotz allem vergeben konnte. Doch jetzt, wo ich ihr schmerzverzerrtes Gesicht nicht mehr sehen musste, war ich mir nicht ganz sicher, ob ich das auch wirklich wollte. Vollständig. Ohne weitere Vorwürfe.
    Schließlich konnte sie die letzten zwölf Jahre meines Lebens nicht einfach ungeschehen machen—niemand konnte das. Doch dies war vermutlich meine letzte Chance, um Antworten auf meine brennenden Fragen zu bekommen. Wenn ich sie jetzt noch einmal wegstoßen würde, ginge diese Gelegenheit verloren. Meine Mutter war bereit zu sterben. Sie würde mir niemals mehr erzählen können, was damals wirklich passiert war. Und ich würde ihr niemals sagen können, wie sehr ich sie in all diesen einsamen Jahren vermisst hatte.
    So tief in Gedanken versunken, war mir gar nicht aufgefallen, dass ich aufgehört hatte zu fegen und einfach nur gerade aus auf die Wand starrte. Ich kniff mich in meine Nasenwurzel und seufzte. Irgendwann würde ich so oder so wieder mit meiner Mutter sprechen. Ich konnte es also genauso gut heute tun. Aber erst musste die Sauerei hier weggemacht werden.
    Ich kniete gerade auf dem Boden und kehrte einen kleinen Berg Scherben auf die Schaufel, da verfing sich ein loser Faden meines Verbands an einem abstehenden Splitter des Besenstils. Ich bekam

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