Märchensommer (German Edition)
wusste, mein Traum, für immer so in seinen Armen bleiben zu können, war kurz davor, zu zerplatzen.
Julian legte sein Kinn auf meinen Kopf und drückte mich fester. „Ich liebe dich“, hörte ich sein Flüstern, obwohl ich mir nicht ganz sicher war, ob es nicht nur in meinen Gedanken widerhallte.
Ich wünschte mir, ich hätte ihm dasselbe sagen können. Nur einmal, damit er es auch wirklich wusste, bevor er mich verlassen würde. Doch schweres Schluchzen schnitt mir die Stimme ab. Noch nie zuvor hatte ich mich so hilflos gefühlt.
In mir war ein Loch, genauso dunkel, wie es gerade in Julians Zimmer war. Ich lag in seinem Bett mit meinem Kopf auf seiner Brust. Der tränennasse Stoff seines Sweaters blieb an meiner Wange kleben. Die Nachwirkungen von dem, was vor ein paar Minuten in Alberts Studierzimmer passiert war, rasten in Schockwellen durch meinen Körper. Doch die Wärme, die von meinem Engel ausging und mich umfing, bewahrte mich davor, an meinem Kummer und der Angst vor dem, was mir noch bevorstand, zu zerbrechen.
Seine Arme schlangen sich fester um mich. Ich schloss die Augen und versuchte, etwas Ruhe zu finden, bevor ich schon bald wieder zu meiner Mutter hinuntergehen würde. Vielleicht zum letzten Mal.
Bei der kleinsten Bewegung von Julian schreckte ich hoch und war hellwach. „Mom?“ Ich sah mich verwundert im Zimmer um. Warmes Tageslicht, das durch die beiden Fenster fiel, hatte die Dunkelheit bereits vertrieben.
Julian streichelte mir sanft mit den Fingerspitzen über die Wange. Dann küsste er mich auf die Stirn. Seine ruhigen und wunderschönen Augen zu sehen reichte aus, um mich zu besänftigen.
„Es ist alles in Ordnung“, versicherte er mir. „Deine Tante macht sich nur langsam Sorgen, weil Charlene noch nicht aufgewacht ist. Ich kann ihre Anspannung bis hier oben spüren. Am besten gehe ich zu ihr und wecke deine Mutter auf.“
Der Kloß in meinem Hals löste sich mit einem Schlucken. „Ist gut. Ich muss nur noch mal schnell ins Bad, dann komme ich mit.“
Julian presste die Lippen aufeinander. Seine Stirn lag in Falten. Er wollte jetzt hoffentlich keine weitere Diskussion mit mir anfangen.
„Du wirst mich hier nicht alleine zurücklassen, hörst du!“, schimpfte ich, noch bevor er irgendetwas sagen konnte, und funkelte ihn dabei mit schmalen Augen an.
„Ich sollte dich sowieso lieber im Augen behalten“, entschärfte er unsere Blicke und grinste dabei schief zu mir rüber. „Wer weiß, auf was für Gedanken du noch kommst, wenn ich dich zu lange alleine lasse.“
Schnell lief ich ins Badezimmer und spritzte mir kaltes Wasser in das verquollene Gesicht. Hand in Hand schritten wir danach die Treppe hinunter. Maries ängstliches Flüstern drang dabei zu uns hoch. Sie stand mit Albert im Flur und hatte eine Hand nachdenklich an ihren Mund und die andere auf die Hüfte gelegt. Sie wirkte verloren. Ein kalter Schauer kroch mir über den Rücken.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Julian, als wir sie erreichten. Sein glaubwürdig unschuldiger Tonfall gruselte mich noch mehr.
„Es geht um Charlene. Sie ist heute noch nicht aufgewacht“, erklärte meine Tante. „Normalerweise ist sie um diese Zeit schon lange auf. Selbst als ich vorhin zu ihr rein sah und sie leicht rüttelte, hat sie keinen Ton von sich gegeben. Sie sieht zwar aus, als würde sie nur schlafen, aber ich mache mir Sorgen, dass sie ins Koma gefallen ist.“ Maries Stimme war nahe daran, zu brechen. In ihren Augen lag eine fürchterliche Angst, die ich nur zu gut nachvollziehen konnte. „Ich habe gerade zu Albert gesagt, dass ich es für besser halte, einen Arzt zu rufen.“
Julian trat vor sie und legte ihr seine Hand auf den Arm. Ich wusste genau, was sich in diesem Moment für ein Gefühlsaustausch zwischen den beiden abspielte. Es war faszinierend, wie die Angst binnen weniger Sekunden aus ihrer ganzen Körperspannung wich.
„Jona und ich haben Charlene gestern lange wach gehalten“, sagte er zu ihr. „Sie ist wahrscheinlich nur erschöpft. Lass sie noch ein paar Minuten schlafen. Ich bin sicher, es geht ihr bald wieder gut.“
Ich war bereits auf dem Weg in das Zimmer meiner Mutter, doch selbst mit dem Rücken zu Julian konnte ich die Lüge in seinen Worten spüren. Meiner Mutter würde es nicht besser gehen. Nie mehr. Zumindest nicht auf dieser Welt. Heute konnte ebenso gut ihr letzter Tag sein. Vielleicht sollte jemand mit Marie reden und sie darauf vorbereiten. Sie würde sich bestimmt
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