Märchensommer (German Edition)
einem traurigen Leben entfliehen wollen, hätte ich mich schon vor Jahren vor den Bus geworfen. Doch ich hatte niemals vor aufzugeben. In diesem Moment weniger denn je. Alles kam nur auf ihn zurück. Ich brauchte einen Weg, um bei ihm bleiben zu können. Im Leben danach.
Ich liebe dich, rief ich so laut in meinen Gedanken, dass ich hoffte, er könnte es trotz allem hören und mich verstehen.
Doch Julian wurde plötzlich kalt und distanziert. „Wenn du dich jetzt umbringst, bleibt dir der Himmel verschlossen. Du wirst an einen anderen Ort gelangen, viel dunkler, trauriger und einsamer, als du es dir jemals vorstellen kannst.“ Die Angst, die ganz plötzlich anstatt der Kälte in seine Augen trat, wirkte echt. „Es ist ein Ort, an den ich dir nicht folgen kann, Jona. Und alleine findest du nie wieder zurück.“ Seine nächsten Worte presste er durch zusammengebissene Zähne hervor. „Also leg jetzt bitte um Himmels willen diese Pistole weg!“
Ich zögerte.
Was wäre, wenn er Recht hatte? So wie er es darstellte, lag ich völlig falsch. Was, wenn wir uns auf der anderen Seite gar nicht wiedersehen würden? Und dann kam mir noch ein viel schlimmerer Gedanke.
Was, wenn er mich auf der anderen Seite gar nicht haben wollte?
Manchmal schien es so, als machte es ihm gar nichts aus, dass er bald gehen würde und ich zurückbleiben musste. Er kämpfte nicht darum, hierbleiben zu können. Er kämpfte nicht um mich. Als Engel musste er doch die Fähigkeiten haben, Dinge zu verändern. Was hinderte ihn also daran? War ich ihm eine Last, die er nur allzu gerne vergessen wollte? Wie einen alten, abgetragenen Pullover würde er mich zurücklassen und an diesen wundervollen, friedlichen Ort zurückkehren. Aber nicht alleine. Er würde mir auch meine Mutter stehlen und sie mitnehmen.
Ich kniff die Augen zu und wollte von der ganzen Welt—hier unten oder auch über uns—einfach nichts mehr wissen. Meine Hand sackte nach unten und hing schlaff an meiner Seite. Verzweifelt schüttelte ich den Kopf.
Julian dachte in diesem Moment wohl, er wäre zu mir durchgedrungen und hätte mich mit seinem falschen Spiel überzeugt. Er machte einen Schritt auf mich zu. Da legte ich beide Hände fest um die Pistole und zielte geradewegs auf sein Herz. In Gedanken feuerte ich bereits all meinen Zorn und meine Frustration auf ihn ab.
„Na schön“, sagte ich leise in der Dunkelheit. „Wenn du mich nicht mitnehmen willst, dann wirst du auch deine verdammten Hände von meiner Mutter lassen. Fahr zur Hölle, Julian!“
Für den Bruchteil einer Sekunde schienen ihn meine Worte mehr zu verletzen, als es eine Pistolenkugel jemals könnte. Doch sein Blick ernüchterte schnell. „Ich komme von oben, nicht von unten. Schon vergessen?“ Als hätte ich ihn zum ersten Mal seit wir uns kannten wirklich beleidigt, verschränkte er seine Arme vor der Brust. „Du kannst auf mich schießen, so oft du willst. Es wird dir nichts nützen. Denn nach dem heutigen Tag solltest selbst du wissen, dass eine Kugel niemals schnell genug sein wird, um mich zu treffen.“
Seine Arme lösten sich wieder voneinander, und er machte einen weiteren Schritt nach vorn, doch diesmal etwas unsicher, wie es schien.
„Bleib wo du bist!“ Der Lauf der Pistole und mein vernichtender Blick waren immer noch direkt auf ihn gerichtet. Mein Finger zitterte am Abzug. Doch ich konnte nicht abdrücken, als er den nächsten Schritt auf mich zu machte und dann noch einen.
Julian kam langsam um den Tisch herum. Ich verfolgte jede seiner bedachten Bewegungen mit dem Pistolenlauf. Doch der laute Knall, der alles beenden würde, blieb aus.
Schließlich standen wir uns Auge in Auge gegenüber. Ein langer Moment verstrich. Dann griff Julian vorsichtig nach der Waffe. „Gib sie mir.“
Mir blieb keine andere Möglichkeit mehr. Ich musste einsehen, dass ich weder ihn noch mich selbst erschießen konnte. Es gab nur noch einen Weg, um dorthin zu gelangen, wo ich sein wollte, und der führte mich in seine Arme.
Meine verkrampften Finger lösten sich vom Griff und Julian legte die Pistole auf den Tisch. Dabei wandte er seine Augen niemals von meinen ab. Schließlich nahm er meine beiden Hände und zog mich an seine Brust. Ich konnte den Seufzer der Erleichterung, der gerade aus seiner Lunge wich, förmlich spüren.
Mit meinen Armen um seinen Hals vergrub ich mein Gesicht an seiner Schulter und klammerte mich fest an ihn. Die Sehnsucht nach dem anderen trug uns beide davon, doch ich
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