Märchensommer (German Edition)
auch gerne von ihrer Schwester verabschieden.
Aber wie rückte man in so einem Fall am besten mit der Wahrheit raus? Tut mir leid, Marie, aber das mit Charlene … das wird nichts mehr. Julian—der Engel—hat sich die vergangenen Monate um sie gekümmert. Aber damit ist jetzt Schluss, denn ich habe ihr ihre Fehler vergeben und nun will Gott ihre Seele als Preis. Nicht gerade ein guter Aufhänger für eine nette Unterhaltung am Morgen.
Meine Mutter lag zur Seite gedreht in ihrem Bett. Ihre Augen waren zwar geschlossen, doch ihr tiefes, regelmäßiges Atmen versicherte mir, dass sie entspannt schlief … und noch nicht tot war.
Ein Anflug von Unsicherheit hielt mich zurück. Ich stand lange mitten im Zimmer und blicke sie einfach nur an. Da legten sich sanfte Hände auf meine Schultern. „Du kannst sie jetzt wecken. Sie wird dich hören“, flüsterte mir Julian von hinten ins Ohr.
Ich atmete tief ein, kniete mich vor Charlene und berührte vorsichtig ihren Arm. Mit einem tiefen Stöhnen wachte sie auf und öffnete langsam ihre Augen. „Guten Morgen, Sonnenschein“, sagte sie mit federweicher Stimme und lächelte mich an.
Ich schlug die Hände über meinen Mund. Brennend heiße Tränen kämpften sich gerade an die Oberfläche. Meine Mutter würde bald sterben—was konnte an diesem Morgen schon Gutes sein? Ohne etwas zu erwidern, kippte ich nach vorn und fiel ihr um den Hals. Der Schmerz brach mit lautem Schluchzen aus mir heraus.
Mom rutschte weiter nach oben, um sich am Kopfende anzulehnen, und zog mich dabei mit sich. Dann schloss sie mich so fest in ihre Arme, dass ich mich wunderte, wo sie diese neue Kraft hernahm. „Wein’ doch nicht, mein Baby. Es wird schon alles gut—du wirst sehen.“ Sie klang fröhlich und besonnen. Es lag keine Angst in ihrer Stimme. „Versprich mir bitte eins. Bleib bei Marie und Albert. Die beiden lieben dich von ganzem Herzen. Sie werden gut auf dich aufpassen und dir alles geben, was du dir wünscht.“
„Ich wünsche mir gar nichts“, krächzte ich in einer Pause meines von der Tränenflut ausgelösten Schluckaufs. „Nur, dass du bei mir bleibst. Wie soll alles gut werden, wenn Er dich mir schon wieder wegnimmt?! Das ist nicht fair! “ Die Worte brachen aus meiner klammen Brust und schmerzten in meinem Hals, als würden sie ihn in Fetzen reißen. Nicht einmal Julians liebevolle Berührung in meinem Nacken konnte mich jetzt noch beruhigen.
In diesem Augenblick stürmte Marie aufgeregt ins Zimmer. „ Mon Dieu! Was ist denn passiert?“ Ich blickte hoch und konnte an ihrem Ausdruck klar erkennen, dass sie bereits mit dem Schlimmsten gerechnet hatte. Doch als sie ihre Schwester aufrecht sitzend auf dem Bett sah, entspannten sich ihre Gesichtszüge zu einem erleichterten Lächeln, und sie drückte ihre Hand auf ihr Herz. „Dem Himmel sei Dank! Du bist endlich wach. Ich habe mir heute Morgen schon solche Sorgen um dich gemacht.“
Marie setzte sich neben mich auf die Bettkante und streichelte mir sanft durchs Haar. „Aber warum weinst du denn, Chérie ?“
Ich brachte keine Antwort heraus. Da legte Julian meiner Tante eine Hand auf die Schulter, und als sie zu ihm hochsah, nickte er fast unmerklich zur Tür. „Kann ich dich kurz sprechen?“, sagte er zu ihr.
„Aber natürlich.“ Zögerlich stand sie auf, gerade so, als ahnte sie bereits, was für schlechte Nachrichten Julian für sie hatte.
Als die Türe leise ins Schloss klickte, sank ich wieder tiefer in die Arme meiner Mutter. Es dauerte nicht lange, da kam Julian mit einer schluchzenden Marie hinter sich zurück. Ein Blick zwischen den Schwestern war genug, um Marie zu bestätigen, was Julian ihr gerade erzählt haben musste. Meine Tante fiel neben mir auf die Knie und nahm eine Hand meiner Mutter. Sie gab ihr einen Kuss auf die Handinnenfläche und drückte sie dann fest. „Du hättest es mir früher sagen sollen!“
Ich merkte, wie der fragende Blick meiner Mutter zu Julian wanderte. Er räusperte sich kurz und erklärte: „Ich habe ihr erzählt, was der Doktor am Samstag gesagt hat. Dass du dich von deiner Erkältung wahrscheinlich nicht mehr erholen wirst.“
Nicht ganz sicher, ob der Arzt das wirklich gesagt hatte oder ob dies Julians Versuch war, die Tatsachen zu verschleiern, stand ich auf und ging zögerlich zu ihm. Er zog mich an sich und küsste mich auf die Stirn, wobei er flüsterte: „Sie muss nicht alles wissen, nur so viel.“
Ich nickte und ließ mich von seinem vertrauten Duft
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