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Märchensommer (German Edition)

Märchensommer (German Edition)

Titel: Märchensommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katmore
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…“
    „Sie blickt bereits in den Himmel“, sagte Julian leise hinter mir. Eine schauderhafte Gänsehaut zog sich dabei über meinen ganzen Körper. „Du musst sie jetzt gehen lassen.“
    Aber ich war noch nicht bereit dazu. Unfähig, auch nur noch ein Wort aus meiner Kehle zu quetschen, schlang ich meine Arme um meine widerstandslose Mutter und drückte sie fest an meine Brust. Meine Lungen waren luftleer und ich kämpfte vor Angst zitternd um jeden Atemzug.
    Der verklärte, in die Ferne gerichtete Blick meiner Mutter wurde nüchterner. „Lass mich gehen, Kind.“
    „Nein. Nein! Niemals!“ Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Julian nun langsam auf uns zuschritt. Ich drehte meinen Kopf zu ihm, ließ aber meine Mutter nicht los. „Du wirst sie nirgendwo hinbringen, hörst du?!“
    Eine vereinzelte Silberträne blitzte in seinem Auge und leuchtete mit der Kraft eines Sterns. Er blinzelte. Dann war sie verschwunden. „Ich wünschte, ich müsste das nicht tun, Jona. Aber ich habe keine andere Wahl.“
    Der halbe Raum strahlte mit seiner Präsenz, als er vor mir auf den Boden sank. Er legte mir seine rechte Hand über die Stirn. Diese einfache Berührung saugte eine ganze Flut von Erinnerungen aus meinem Kopf. Jede einzelne von ihnen blitzte kurz vor meinem inneren Auge auf—wunderschön wie eine gläserne Weihnachtskugel—bevor sie für immer verschwand.
    Ich versuchte mich gegen den Sog zu wehren, stemmte mich mit aller Kraft dagegen. Es half alles nichts. Der gestrige Tag verschwand aus meiner Erinnerung. Dann unsere Unterhaltungen auf dem Balkon. Das Herumtollen am Strand.
    Ich schüttelte meinen Kopf wild hin und her und schrie dabei: „ Bitte, Julian! Mach das nicht! Nimm sie mir nicht weg. Nicht meine Erinnerungen! Was bleibt mir denn dann noch …?“
    Ich durchlebte noch einmal unseren ersten Kuss, dann war auch diese Erinnerung verschwunden. Die Nacht in seinem Zimmer … Die Arbeit mit ihm in den Weinbergen … Und schließlich unsere erste Begegnung. Alles war weg.
    Was mir blieb, war meine tote Mutter, die ich im Arm hielt und leise weinend hin und her wiegte.

29. Wahnvorstellungen
     
     
    DIE VÖGEL ZWITSCHERTEN ein unnatürlich fröhliches Lied in der weit ausladenden Krone des Apfelbaumes, der bestimmt schon seit über fünfzig Jahren gleich hier neben der Terrasse stand. Zwischen den neuen, saftig grünen Blättern blinzelte die Sonne hin und wieder durch. Sie zauberte ein Spiel aus Licht und Schatten auf mein Gesicht. Ein frischer Pfirsichduft stieg von der Sitzauflage der schweren Holzliege auf. Dass Albert die Gartenmöbel aus der Hütte geholt und Marie die Auflagen gewaschen hatte, gab weiteres Zeugnis, dass der Frühling die kalten Wintermonate besiegt hatte.
    Ich winkelte die Beine an und zog den Saum meines Kleides darüber, umschlang sie mit meinen Armen und legte meine Wange auf die Knie. Gelb. Marie hatte heute Morgen gelächelt, als sie mich in dem Kleid die Treppe runterkommen sah, und gesagt, die Farbe wäre gut gegen meine Depression.
    Aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie eine Farbe allein etwas verändern sollte. Genauso gut hätte ich auch meine üblichen schwarzen Sachen tragen können. Die harmonisierten wenigstens mit meinem Seelenzustand.
    Nach dem Tod meiner Mutter hatte sich die Welt für mich verändert. Sie war nicht mehr derselbe lebendige Ort. Wie ein Strudel hatte mich die Traurigkeit nach unten gezogen, und so wie es aussah, wollte sie mich nicht so schnell wieder nach oben lassen. Das Begräbnis hatte ein besonderes Kapitel in meinem Leben geschlossen. Ein sehr schmerzliches, mit vielen Wendungen und einem überraschenden Ausgang.
    Ich fand einfach nicht die Kraft, ein neues Kapitel anzufangen.
    Quinn war vor acht Monaten zu der traurigen Zeremonie erschienen. Er war extra meinetwegen aus London hierher geflogen. Schließlich musste er dann auch noch eine Passage aus der Bibel für mich fertig lesen, als ich in der Kirche in Tränen ausgebrochen war und einfach nicht mehr weiterlesen konnte. Er war ein wirklich guter Freund. Dass er in den ersten harten Wochen nach der Beerdigung für mich da war, rechnete ich ihm hoch an.
    Nach einer Unterhaltung, die die halbe Nacht gedauert hatte, bot mir Quinn an, mich mit ihm zurück nach England zu nehmen. Albert hatte sogar versprochen für eine Wohnung und ein Studium an einer Londoner Universität aufzukommen, falls ich mich dazu entschließen sollte.
    Aber ich hatte ihr großzügiges Angebot abgelehnt.
    Unter

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