Märchensommer (German Edition)
trösten.
Während Marie und auch Albert, der gerade ins Zimmer gekommen war, versuchten meiner Mutter gut zuzureden und sie davon zu überzeugen, dass der Doktor sich geirrt haben musste, schob mich Julian sanft aus dem Zimmer und brachte mich in die Küche. „Du musst etwas essen“, sagte er und begann, mir ein kleines Frühstück zuzubereiten. Aber außer ein paar kleinen Schlucken Tee brachte ich an diesem Morgen nichts runter.
Mit den heißen Tassen in unseren Händen sahen wir uns über den Tisch hinweg an. Keiner von uns sagte etwas. Ständig kämpfte ich mit neuen Tränen, doch ich konnte sie größtenteils unterdrücken. Ich wollte an meinem letzten Tag mit Julian nicht die ganze Zeit heulen. Dafür hatte ich später noch genug Zeit.
Julians Augen waren warm und stark, doch sein schweres Seufzen schnitt durch die Stille. Er rieb sich mit den Händen übers Gesicht, dann streckte er sie nach meiner Hand aus und führte sie an seine Lippen. Sein warmer Atem liebkoste meine Finger.
„Wirst du dich wenigstens an mich erinnern?“, fragte ich in einem kaum hörbaren Flüstern.
Julians Augen wanderten zu meinen, doch anstatt zu antworten, runzelte er verwirrt die Stirn.
Ich nahm einen Schluck Tee, um meine Stimme wiederzufinden. „Du hast gesagt, du nimmst mir alle Erinnerungen an dich. Jetzt frage ich mich, ob du dich noch an mich erinnern wirst, wenn du erst einmal zurück im Himmel bist.“
Julian räusperte sich leise. Ich war also nicht die Einzige, der das Sprechen in diesem Moment schwerfiel. „Natürlich werde ich mich an dich erinnern. Ich werde die Momente mit dir wie einen Schatz in meinem Herzen tragen. Ewig.“
Und was ewig bedeutete, hatte ich gestern auf der Wiese von ihm gelernt.
Jeder Atemzug füllte meine Brust mit schwereren Steinen. Es tat so furchtbar weh. Ein Teil von mir sehnte den Moment herbei, an dem ich alles vergessen und diesen Schmerz nicht mehr spüren würde. Aber dieser Teil war verschwindend klein und wurde unter den Steinen in meiner Brust begraben.
Ein paar Minuten später kam Marie in die Küche. Ihre Augen glänzten und ihre Nase war rot. „Henri hat gerade angerufen. Eine Wasserleitung der Sprinkleranlage ist geplatzt und überschwemmt gerade die Reben. Albert und ich müssen raus, aber ich werde nicht lange weg sein.“
Julian und ich nickten nur. Den Blick traurig auf den Boden gesenkt, ging Marie aus der Tür, drehte sich aber vorher noch einmal kurz um. „Wenn etwas passiert—wenn es Charlene schlechter geht—holt mich sofort herein.“
Wir versicherten Marie, dass einer von uns rauskommen und ihr Bescheid geben würde, sobald sich der Zustand meiner Mutter veränderte. Dann gingen wir zurück in Charlenes Zimmer.
„Kann ich dir irgendetwas bringen?“, fragte ich meine Mutter und setzte mich zu ihr ans Bett. Auf ihrem Nachttisch lag ein nasser Lappen. Damit betupfte ich ihre glühende Stirn und Wangen.
„Nein, mein Schatz. Bleib einfach nur bei mir. Ich möchte mich gerne einen Moment ausruhen.“ Ihre Augen waren bereits zugefallen, also war ich still und streichelte nur sanft ihr Haar.
Julian kniete sich vor mich auf den Boden und legte seine gefalteten Arme und seinen Kopf auf meinen Schoß. Ich wusste nicht, was schlimmer weh tat. Ihn zu verlieren, oder meine Mutter. Aber der Schmerz von beidem zusammen war einfach zu viel. Ich wünschte mir, ich könnte meine Augen schließen, so wie meine Mutter, und der Traurigkeit einfach entfliehen.
Nach einer halben Stunde, in der meine Beine eingeschlafen waren und mein Rücken begonnen hatte, steif zu werden, stand Julian auf und nahm mich mit zu dem Ohrensessel vor dem Fenster. Er setzte sich zuerst und zog mich dann auf seinen Schoß. Ich ließ die Beine über die Armlehne baumeln und kuschelte mich an seine Brust.
„Weißt du“, sagte er leise in mein Ohr. „Als Engel habe ich schon tausende wunderschöne Dinge gesehen und auch einige Wunder erlebt. Aber das Beste, das mir in meinem ganzen Leben passiert ist, bist du.“
Seine Offenheit ergriff mich tief, denn ich wusste, er sprach hier von fünfundsechzigtausend Jahren Existenz. „Du bist ganz bestimmt auch das Wundervollste, das mir je passiert ist“, flüsterte ich zurück.
Da hielt er plötzlich den Atem an und unter mir verspannte sich sein Körper, so als würde gleich etwas sehr Wichtiges passieren.
„Was ist?“, fragte ich nach ein paar Sekunden.
Julian entspannte sich wieder. Aber nur oberflächlich. Seine Augen waren leer
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