Märchensommer (German Edition)
und sein Griff fest um meine Hand. Er wirkte bitterlich enttäuscht und vergrub sein Gesicht in meinem Haar. „Nichts, Jona. Es ist nichts.“
Ich wusste, das war eine Lüge. Doch ich hatte keinen blassen Schimmer, was gerade geschehen war. Und Julian würde es mir nicht sagen, so viel war sicher.
Die Minuten verstrichen. Julians rhythmisches Kraulen in meinem Nacken hypnotisierte mich und ich fiel in einen Halbschlaf. Ich hatte mich auf seinem Schoß zu einem Knäuel zusammengerollt. Sein warmer Duft von wildem Wind war alles, was ich wahrnahm, während seine Brust sich unter meiner Wange stetig hob und senkte. Ein wunderschönes Gefühl. Ich wollte für immer darin versinken.
Doch im nächsten Moment schreckte ich hoch, als meine Mutter ein fürchterliches, gurgelndes Husten von sich gab. Bevor ich wusste, wie mir geschah, war ich bereits aufgesprungen und zu ihr ans Bett gerannt. „Mom! Ich bin hier!“ Die Besorgnis, die ich lieber vor ihr versteckt gehalten hätte, klang deutlich in meiner Stimme.
Meine Mutter griff nach meiner Hand. Der Druck ihrer Finger war kräftig, was mir etwas mehr Zuversicht gab. „Ich brauche nur einen Schluck zu trinken. Kannst du mir bitte ein Glas Wasser holen?“ Ihre Lippen waren trocken wie Sandpapier, und es brachte auch nichts, dass sie sich mit einer ebenso trockenen Zunge darüber leckte.
Ich schaffte es in zehn Sekunden vom Bett meiner Mutter in die Küche und mit einem Glas Wasser wieder zurück. Allerdings hatte ich auf dem Weg wohl eine Wasserspur hinterlassen. Ich stützte meine Mutter am Hinterkopf ab und half ihr, in kleinen Schlucken zu trinken. Als sie genug hatte und ich das Glas wegstellte, breitete sie ihre Arme für mich aus, und ich war froh, darin versinken zu können.
„Ich danke dir, mein Kind.“
Angst hielt mich plötzlich im Schwitzkasten, als mir klar wurde, dass sie damit nicht nur das Glas Wasser meinte. Als sie mich dann auch noch bat, Marie hereinzuholen, wurde aus meiner Angst Panik. Ich zuckte zusammen. „Warum? Was ist los? Geht es dir schlechter?“
„Nein, mein Schatz.“ Sie bedachte mich mit einem starken, strahlenden Lächeln. „Ich habe nur vergessen, mit ihr über meine Ersparnisse zu reden. Damit sollte eine gute Ausbildung für dich gesichert sein. Ich möchte das gerne jetzt noch mit Marie besprechen … so lange es mir noch gut geht.“
Fühlte sie sich wirklich so gut oder war das alles nur Julian zu verdanken? Und wen interessierte in diesem Moment schon meine Ausbildung? Es gab wirklich Wichtigeres. Doch als ich merkte, wie wieder Farbe in ihre Wangen trat und sie im Ganzen viel gesünder aussah als noch vor zwei Stunden, kam es mir nicht in den Sinn, mit ihr zu streiten.
„Ich würde ja Julian nach Marie schicken, aber ich fürchte, ich brauche ihn hier“, erklärte sie mir. „Holst du sie bitte?“
Ich warf einen fragenden Blick über meine Schulter zu Julian. Er antwortete mit einem zuversichtlichen Nicken und kam zu mir. Zaghaft stand ich vom Boden auf. Sollte ich wirklich gehen und meine Mutter alleine lassen?
Meine Haarsträhnen flossen weich durch Julians Finger, bevor er mir seine Hand auf die Wange legte und mich sanft an sich drückte. Er küsste mich zärtlich auf die Stirn. „Alles ist gut“, versprach er mir.
Also schlüpfte ich in meine Stiefel und machte mich auf den Weg. Als ich die Weinberge erreichte, sah ich, wie sich Marie und Albert in ein paar hundert Metern Entfernung über eine kleine Eisenstange beugten, die aus dem Boden ragte. Sie waren zu weit weg und hätten mein Rufen wohl kaum gehört, also lief ich den Pfad zwischen den Weinreben entlang und war mit meinen Gedanken die ganze Zeit bei meiner Mutter und Julian.
Worüber sprachen sie wohl gerade, jetzt, wo sie alleine waren? Meine Mutter wirkte heute überhaupt nicht ängstlich, obwohl wir beide fühlen konnten, dass es bald vorbei sein würde. Vielleicht fragte sie Julian gerade über das Leben auf der anderen Seite aus. Vielleicht bereitete sie sich auch schon darauf vor …
Mit stockte der Atem und ich blieb wie angewurzelt stehen. Die Welt begann sich wie ein Karussell um mich zu drehen. Unheimliche Geräusche, als ob ich unter Wasser gedrückt würde, pressten von innen gegen mein Trommelfell.
Wie konnte ich es nur übersehen?!
Meine Mutter wollte mich aus dem Zimmer haben, damit ich nicht mit ansehen musste, wie sie starb. Sie hätte Julian ohne Weiteres schicken können, um Marie zu holen, doch sie brauchte ihn bei sich.
Weitere Kostenlose Bücher