Märchensommer (German Edition)
Denn er würde sie auf die andere Seite begleiten.
Um Himmels willen, nein!
Marie blickte in meine Richtung. Den Mund und die Augen weit aufgerissen, sah ich wohl aus, als hätte mich gerade ein Bus überfahren. Und genauso fühlte ich mich.
„Jona, geht es Charlene nicht gut?“, rief Marie zu mir herüber.
Ich hatte keine Zeit, um ihr zu antworten. Meine Schuhsohlen rutschten auf dem Kies, als ich kehrt machte. Ich musste schleunigst zurück! Doch wie von unsichtbaren Fesseln gehalten, bewegte ich mich kaum von der Stelle. Für die ersten paar Schritte brauchte ich eine Ewigkeit.
„Julian, warte! Tu’s nicht!“, schrie ich verzweifelt, obwohl ich nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob überhaupt ein Ton aus meiner Kehle kam. Doch in meinem Kopf rief ich seinen Namen immer und immer wieder. Er konnte mich sicher hören. Bitte! Er musste einfach. Gott durfte mir meine Mutter heute noch nicht nehmen. Nicht gerade jetzt, wo ich nicht bei ihr war … und ihr nicht auf Wiedersehen sagen konnte.
„Jona! Was ist denn passiert?“, hörte ich Marie hinter mir, doch ich ignorierte ihr entsetztes Rufen.
Das Haus schien meilenweit entfernt zu sein. Ich würde Stunden brauchen, um zurückzugelangen. Mit aller Kraft zwang ich meine Beine, sich schneller zu bewegen. Und dann rannte ich plötzlich los. Meine losen Stiefel schlugen bei jedem Schritt hart auf den Boden. Der Kies knirschte und schoss in alle Richtungen. Maries Rufe wurden leiser.
Als ich endlich die Haustür erreicht hatte, pochte mein Herz laut zwischen meinen Ohren. Der Weg durch die Halle zum Zimmer meiner Mutter kam mir unendlich weit vor. Die Tür stand einen Spalt offen. Ich warf mich dagegen und stolperte in den Raum.
„Nicht! Bitte! Nicht! “ In meinem Kopf drehte sich alles. Ich schnappte wild nach Luft und stürzte.
Zwei starke Hände fingen mich auf. Ich sah hoch zu Julian. Bei seinem Anblick wusste ich, es war zu spät. Das einzige Detail, das ich jetzt noch an ihm wiedererkannte, waren seine wunderschönen blauen Augen. Der Rest von ihm war in strahlend weißes Licht getaucht. Anstatt seiner üblichen Kleider trug er nun wieder diese lange weiße Robe. Aus seinen Schulterblättern entfaltete sich ein Paar Flügel, die nur einen halben Meter über dem Fußboden schwebten. Als er sie ausbreitete, berührten die Spitzen beinahe zwei gegenüberliegende Wände des Raums.
Der Engel nahm mich in seine Arme und legte seine Stirn gegen meine. Mit seinen Flügeln schloss er uns in eine Kugel aus warmem weißen Licht ein.
Ich begann zu schniefen. Der erste Schwall Tränen brannte wie Höllenfeuer in meinen Augen. Salzige Striemen flossen über meine Lippen. „Bitte warte noch!“, flehte ich heißer und packte dabei den Kragen seiner Robe mit verkrampften Fingern. Ich musste ihn davon abhalten, meine Mutter mit sich zu nehmen; das war alles, was jetzt noch zählte. „Lass sie hier! Lass sie am Leben! Ich will euch nicht beide verlieren. Gib uns noch ein paar Stunden. Ein paar Tage mehr. Lass mich nicht allein, Julian!“
Ein Nebelschweif aus glitzerndem Silber folgte seiner Bewegung, als er mir zärtlich das Haar aus der Stirn streifte. „Das kann ich nicht.“ Sein Ton war liebevoll, doch er ließ keinen Zweifel übrig. „Sieh sie dir an. Deine Mutter ist bereit zu gehen. Es wird Zeit.“
Seine Flügel senkten sich ein wenig, sodass ich darüber hinweg einen Blick zu meiner Mutter aufs Bett werfen konnte. Sie hatte die Augen weit geöffnet. Und sie sah glücklich aus. Obwohl sie in unsere Richtung blickte, schien es, als würde sie nur noch Julian erkennen. Den Engel in strahlendem Glanz.
Ein Teil splitterte von meinem Herzen ab und blieb bei Julian zurück, als ich mich aus seiner Umarmung losriss und zögernd auf meine Mutter zuging. Erst als ich bereits neben ihr kniete, wandte sich ihr Blick von Julian ab und mir zu. Überrascht lächelte sie. „Jona … du bist zurück?“ Ihre Stimme klang leicht, schwebend, so als wäre sie im Geiste schon gar nicht mehr hier.
„Ja, Mom. Ich bin gekommen, um dich aufzuhalten.“
Die Wärme ihrer Hand sank durch meine Haut in meine Wange. „Um mich aufzuhalten? Aber wovor denn?“
„Davor, wegzugehen“, schluchzte ich und wischte mir mit dem Handrücken über die Nase.
„Warum würdest du das tun wollen?“ Ihr kindlicher Ton passte sich ihrem verwirrten Blick an. „Siehst du denn nicht diesen wunderschönen Ort dort vorne? Und hör nur: Sie rufen mich bereits. Es klingt so wunderschön
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