Märchensommer (German Edition)
Tränen hatte ich Marie angefleht, dass sie mich in ihrem Haus bleiben lassen sollte. Wie hätte ich sonst meiner Mutter jeden Tag frische Blumen ans Grab bringen können?
Eine Diskussion war nicht nötig gewesen und auch kein weiteres Flehen. Marie hatte mich liebevoll in ihre Arme geschlossen und mich als das Familienmitglied aufgenommen, das ich in ihren Augen vom Tag meiner Ankunft an gewesen war.
Also blieb ich in Frankreich.
Durch das Fenster in meinem Zimmer hatte ich zugesehen, wie der Sommer verschwunden und in einen farbenprächtigen Herbst übergegangen war. Schließlich versteckte der Winter die Weinberge unter einer schweren Schneedecke. Ständig rot vom vielen Weinen, schmerzte meine Nase schon, wenn ich sie nur anfasste. Und als die letzten Tränen versiegt waren, hatte ich auch nach außen hin völlig zugemacht.
Einmal hatte Marie versucht, mich zu einer Psychotherapie zu überreden. Du läufst nur noch durchs Haus wie ein Zombie. Aber ich wollte nicht zum Seelenklempner. Nicht wegen der Traurigkeit, die mich fest im Würgegriff hatte. Und auch nicht, als die Wahnvorstellungen eingesetzt hatten.
Sie hatten mit harmlosen Träumen begonnen. In ihnen sah ich immer wieder ein verschwommenes Gesicht. Nacht für Nacht verfolgten mich dieselben strahlend blauen Augen, und jeden Morgen, wenn ich aufwachte, sehnte ich mich danach, sie irgendwo wiederzuerkennen. Oft begleitete ich Marie auf den Marktplatz und suchte die Menge verzweifelt nach diesem Paar Augen ab. Vergebens. Ich sah sie nur in meinen Träumen.
Über die nächsten drei Monate bildeten sich die feinen Züge eines männlichen Gesichts um diese Augen herum klarer heraus. Ich erinnerte mich nicht, dieses Gesicht jemals irgendwo gesehen zu haben. Warum träumte ich also jede Nacht von einem jungen Mann, den ich nicht kannte?
Leider besaß ich keinerlei künstlerisches Talent, sonst hätte ich ihn in einem Bild festgehalten. Um ehrlich zu sein, hatte ich es sogar einmal versucht, doch das Ergebnis glich mehr einem krakeligen Garfield-Kopf, als dem eines hübschen Mannes. Marie und Albert konnten ihn anhand meiner Zeichnung leider auch nicht identifizieren. Bei der Erinnerung an ihre verdutzten Gesichter, als sie zweifellos meinen Verstand in Frage gestellt hatten, stöhnte ich leise und duckte mich tiefer in den Liegesessel.
Meine Tante kam zu mir rüber und stellte ein Glas Zitronenlimonade auf das kleine Tischchen neben mir. „Hier, Chérie“, sagte sie auf Französisch. „Wenn du schon kein Frühstück essen willst, dann trink wenigstens etwas Limonade.“
„Merci“, antwortete ich und nahm einen Schluck.
Im vergangenen halben Jahre hatte ich große Fortschritte in der Landessprache gemacht. Man ließ mir hier auch keine andere Wahl. Mein Onkel war irgendwann auf die glorreiche Idee gekommen, dass sie nicht mehr in meiner Muttersprache mit mir reden würden. Nur wenn ich täglich mit Französisch konfrontiert wäre, würde ich auch lernen zu verstehen. Zusätzlich hatten mich die beiden in einen Französischkurs für Anfänger gesteckt. Mittlerweile beherrschte ich diese Sprache fließend.
Marie setzte sich seitlich auf das untere Ende der Holzliege und streifte den Saum meines dreilagigen Rockes glatt. „Dieses Kleid steht dir so gut. Du solltest es wirklich öfter tragen.“
Ich verzog das Gesicht. „Ich fühle mich darin nicht wirklich wohl. Du hättest es mir vorhin nicht raussuchen sollen.“
Dass sie heute Morgen in mein Zimmer geschlichen war, bevor ich aufwachte, und das Kleid aus meinem Schrank geholt hatte, war eine ziemliche Überraschung gewesen.
Marie studierte mich einen Moment aus dem Augenwinkel. „Was redest du denn da? Ich hab dir doch noch nie deine Kleider für den Tag rausgesucht.“
„Aber du hast es heute Morgen doch mit dem Kleiderbügel vor den Spiegel gehängt“, erwiderte ich und war mir plötzlich gar nicht mehr so sicher. „Wie wäre es denn sonst dorthin gekommen?“
Ja, wie nur ?
„Vielleicht hast du es hingehängt, bevor du gestern Nacht ins Bett gegangen bist?“
„Marie, du kennst mich besser als jeder andere. Wann habe ich jemals freiwillig so eine schrille Farbe getragen?“ Ich zog eine Augenbraue hoch und flatterte demonstrativ mit der obersten Rockschicht. „Ich weiß ja nicht einmal, wieso das Kleid überhaupt noch in meinem Schrank war. Ich dachte, ich hätte dir all die bunten Sachen schon vor Ewigkeiten zurückgegeben.“
Marie nahm mein Kinn in ihre weiche Hand und sah mir
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