Märchensommer (German Edition)
Griff zu lockern. Doch um ehrlich zu sein, hatte ich so meine Mühe, mich überhaupt zu entspannen, während Julian mir so zärtlich mit seinen Daumen über die Hände streichelte. Das ging gar nicht.
Julian zwinkerte mir zu. „Und denk immer daran, der Vogel hat mehr Angst vor dir als du vor ihm.“ Dann schlüpfte er wieder durch den Vorhang nach draußen und holte den Schemel. Er platzierte ihn direkt vor meinem Zimmer und stieg hoch. „Mal sehen, ob das funktioniert.“ Als er seine Hände aufhielt, setzte ich den Spatz vorsichtig hinein. Meine eigenen Hände zitterten dabei immer noch.
Als Nächstes hob Julian den Vogel hoch, rollte dann mit den Augen und stöhnte frustriert. „Ein Hocker … war ja klar.“ Er hielt mir den kleinen Piepmatz wieder unter die Nase. „Hier. Halt ihn noch mal.“
„Was ist los?“, fragte ich besorgt und nahm Tweety noch mal in die Hände.
„Der Hocker ist zu niedrig. Ich komm nicht ans Nest. Und da ich nicht fli—“ Er unterbrach sich selbst, und als ich ihn verwundert anblickte, zog er nur mürrisch die Augenbrauen tiefer.
Lieber gar nicht erst darüber nachdenken, beschloss ich für mich.
Julian inspizierte das große, quadratische Fenster über meinem Bett und seine Laune wurde deutlich besser. „Denkst du, du könntest auf das Fensterbrett hier steigen?“ Sein ermutigender Blick verleitete mich dazu, es zumindest zu versuchen. „Du musst dich auch nicht raus lehnen. Wenn ich meine Hand runter strecke, dann gibst du mir einfach den Vogel.“
„Runter strecken? Von wo?“
Mit einer schwungvollen Bewegung hatte sich Julian auf das Geländer des Balkons gehievt. Mir gefror der Atem und ich wurde stocksteif. „Um Himmels Willen, Julian! Komm da sofort runter!“
„Mach dir nicht in die Hosen. Mir passiert schon nichts.“ Ohne zu wackeln, balancierte er auf dem Geländer rüber zur Hausmauer.
Ich hatte zu viel Angst davor, mich aus dem Türrahmen zu lehnen, also sah ich auch nicht, was er als Nächstes tat. Doch nur wenige Sekunden später hörte ich Schritte auf dem Dach über mir. Er hatte sich wohl irgendwie da hochgezogen.
„Das wäre alles so einfach, wenn …“, hörte ich ihn über mir mäkeln.
Wenn was? Wenn er fliegen könnte? Ich schüttelte fassungslos den Kopf.
„Okay, du kannst jetzt aufs Fensterbrett steigen.“ Seine Stimme kam von viel zu weit weg. Mir wurde dabei ganz schummrig.
Aber ich hatte es versprochen, also fasste ich all meinen Mut zusammen und kletterte über das Bett auf das Fensterbrett, wobei ich Acht gab, das Kerlchen in meinen Händen nicht zu zerquetschen. Ich konzentrierte mich fest darauf, was ich tat, und versuchte dabei nicht, nach draußen und unten zu sehen. Meine Knie wackelten verdächtig unter mir. Schnell hob ich den Spatz hoch, um auch selbst wieder sicheren Boden unter den Füßen zu erlangen.
„Etwas mehr nach rechts!“, rief mir Julian zu und ich gehorchte, wobei mir selbst das Ein- und Ausatmen schwerfiel. Julian lachte. „Das andere Rechts, Jona!“
Herrgott noch mal, ich befand mich hier in einer Ausnahmesituation. Kein Grund sich über meine Nervosität lustig zu machen. Mit glühend heißen Wangen hielt ich den Spatz auf die andere Seite. Julian nahm ihn mir ab und kurz darauf hörte ich aufgeregtes Gezwitscher von mehr als nur einem Vogel. Dem Himmel sei Dank. Ich ließ mich zurück aufs Bett fallen und atmete erleichtert auf.
Das rosa Handtuch segelte vor meinem Fenster vorbei. Ich stand auf und wartete, dass auch Julian vom Dach runterkam. Seine Schuhe und Beine erschienen vor meiner Balkontür und baumelten für einen kurzen Augenblick in der Luft. Schließlich ließ er sich fallen und landete in der Hocke auf dem Balkon. Ich schrie auf und machte einen Satz rückwärts.
Julian streckte sich und wischte sich die Hände lässig an der Hose ab. „Job erledigt.“
„Himmel, du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt.“
„Tut mir leid, das wollte ich nicht.“ Er kam auf mich zu. „Aber ich bin mächtig stolz auf dich. Da raufzusteigen war sehr mutig von dir.“
„Findest du?“
Julian nickte. Wir sahen uns merkwürdig lange in die Augen. Als mir die Stille zwischen uns unheimlich wurde, hüstelte ich. „Erzähl mal, wie sieht’s da oben aus? Sitzen da noch mehr kleine Vögel im Nest?“
„Drei. Komm doch mit raus und sieh sie dir selber an.“
Darüber konnte ich nur lachen. „Ja, genau.“
„Nein, im Ernst. Ich denke, du solltest versuchen deine Höhenangst in den
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