Märchensommer (German Edition)
auf seine Gesellschaft genauso gut verzichten. Was machte er überhaupt dauernd im Haus? Brachte er dem Drachen ein Lamm, das sie dann mit ihrem Feuerstrahl rösten konnte?
Und doch musste ich ihm jedes Mal hinterher sehen, wenn er sich wieder einmal für ein paar Minuten entschuldigte. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, doch in Wahrheit wollte ich ihn jedes Mal am Arm festhalten und anbetteln, dass er diesmal nicht zu ihr gehen möge. Himmel, was war nur aus mir geworden? Das Ganze verwirrte mich schon sehr.
Am Abend aß ich meinen Eintopf extra schnell auf und vorgetäuschte Kopfschmerzen waren meine Entschuldigung, um dem üblichen Gequatsche nach dem Essen frühzeitig zu entkommen.
Marie sagte mir am Fuße der Treppe Gute Nacht. „Du hast dich wahrscheinlich überanstrengt.“ Sie streichelte mir sanft über die Stirn. „Morgen wirst du nicht mit hinaus in die Weinberge kommen.“
Oh, wie Recht sie doch hatte. Innerlich rieb ich mir schon die Hände. Doch gleichzeitig zog sich bei dem Gedanken, meine neugewonnene Familie nie wiederzusehen, eine Schlinge aus Stacheldraht um mein Herz.
„Ruh dich jetzt aus, Liebes“, sagte sie und nahm meine Hand. „Außerdem ist morgen Wochenende. Vielleicht finden wir etwas, das wir beide unternehmen können. Nur du und ich.“ Ihre Mundwinkel kurvten nach oben. „Wie klingt das?“
Es klang fantastisch! Der Kloß in meinem Hals hinderte mich daran, ihr die Lüge mitten ins Gesicht zu schleudern. Ich zog meine Hand zurück.
Aber es ist doch gar keine Lüge und das weißt du auch.
Ah, verflucht sei diese Stimme in meinem Kopf!
Ich versuchte das Durcheinander in mir zu ordnen, doch es war unmöglich. Also nickte ich nur kurz, drehte auf der untersten Stufe um und rannte nach oben. Als ich in meinem Zimmer angekommen war, knallte ich erleichtert die Tür zu und lehnte mich dagegen. Ein tiefer Seufzer kam über meine Lippen, als mein Blick Richtung Zimmerdecke wanderte. „Lieber Gott, lass mich von hier verschwinden, bevor ich noch völlig wahnsinnig werde und meine Meinung ändere.“
Ich huschte ins Bad, um zu duschen, zog dann meine eigenen zerschlissenen Jeans und das schwarze Top an, setzte mich an den Schreibtisch und schrieb einen neuen Abschiedsbrief für Marie. Als ich fertig war, faltete ich den Brief zweimal und versteckte ihn in meinem Notizblock. Später, auf meinem Weg nach draußen, würde ich ihn auf dem Küchentisch zurücklassen.
Draußen wurde es langsam dunkel. Das war’s also. Ich war bereit. Um ja nicht wieder zu verschlafen, stellte ich den Wecker auf Mitternacht. Seltsam, dass ich für diese einfache Aufgabe volle fünf Minuten brauchte. Mein Hals wurde eng und tat weh, während ich an der Uhr herumfummelte. Dann fiel mir ein, dass ich vielleicht lieber die Fenster und Balkontür schließen sollte, damit Julian nicht hörte, wenn in meinem Zimmer der Wecker läutete.
Julian.
Ich knurrte in mich hinein. An ihn sollte ich gar nicht erst denken. Aber irgendwie wollte er mir nicht aus dem Kopf gehen. Die letzten beiden Tage mit ihm waren … interessant . Ich brauchte nur die Augen zu schließen und sah ihn ganz deutlich vor mir: wie sich immer ein Grübchen auf seine Wange schlich, wenn er schief grinste, wie ihm manchmal eine Haarsträhne in die Augen fiel, wenn er sich vornüberbeugte, und er sie dann wegpustete. Oh Mann. Ohne es zu wissen, hatte ich wohl jedes kleine Detail von ihm in meinen Gedanken gespeichert. Das war kein gutes Zeichen.
Doch wen kümmerte es schon? Ich würde die Tatsache einfach für mich behalten. Ein leises Stöhnen kam über meine Lippen. Wie gern hätte ich noch einmal diesen Duft von wildem Wind an ihm gerochen. Nur einmal, bevor es Zeit war zu gehen.
Jetzt reiß dich endlich zusammen, Weichei!
Ich schwang mit dem Drehsessel herum und blickte mich noch ein letztes Mal in diesem Zimmer um. Was für ein Palast. Und ich kehrte ihm den Rücken zu. Ich musste verrückt sein. Doch dann fiel mir auch meine Mutter wieder ein, und ich wusste, es gab keinen anderen Weg. Je eher, desto besser.
Ein dumpfes Geräusch, so als hätte jemand ein Kotelett auf den Balkonboden geworfen, riss mich aus meiner Grübelei. Ich stand auf und ging zur Balkontür. In dem Moment, als ich den Vorhang zur Seite zog, flatterte ein Spatz aufgeregt in die Luft, dreimal im Kreis und dann hoch zum Dach. Vor Schreck duckte ich mich und schlug meine Arme um meinen Kopf.
„Verrückte Vögel“, murmelte ich und wollte schon wieder
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