Märchensommer (German Edition)
umkehren, da lenkte ängstliches Vogelgezwitscher meine Aufmerksamkeit nach unten. Meine Augen gingen weit auf und mein Herz wurde zu Pudding.
Nur einen Schritt von mir entfernt saß ein junger Spatz auf den Balkonlatten und neigte seinen Kopf unsicher von einer Seite auf die andere, als er zu mir hochsah. Ich hockte mich langsam hin und wartete darauf, dass er aus Angst vor mir abhauen würde, doch außer seinem Kopf bewegte sich bei dem Vogel gar nichts.
„Was machst du denn auf meinem Balkon, Kleiner? Kannst du nicht fliegen?“ Vorsichtig streckte ich ihm eine Hand entgegen, doch da machte das Kerlchen ein paar Hopser rückwärts.
„Fass ihn nicht an.“ Obwohl die Stimme sanfter klang als raschelnde Blätter im Wind, sah ich erschrocken hoch. Julian spazierte auf meine Seite des Balkons. „Er ist vermutlich aus dem Nest gefallen. Da ist eines unterm Dach, gleich über deiner Balkontür. Als er sich langsam neben mich kniete, hüpfte der kleine Spatz weiter nach hinten, bis er in der Ecke des Balkongeländers in der Falle saß.
„Kannst du mir ein Handtuch aus dem Bad holen?“, sagte Julian.
„Ich glaube ja nicht, dass der Vogel trocken gerieben werden muss. Der braucht nur eine Fahrt nach oben.“
Julians Seufzen wurde von seinem süßen, schiefen Grinsen begleitet. „Geh einfach!“
Ich warf ihm noch einen skeptischen Blick zu, lief aber dann los und holte ihm, was er wollte. „Was hast du damit vor?“, fragte ich, als ich wieder neben ihm hockte.
„Ich versuche meinen Geruch nicht auf den Vogel zu übertragen, wenn ich ihn gleich zurück in sein Nest setze. Seine Mutter wird ihn nicht mehr akzeptieren, wenn er nach Mensch riecht.“ Er rutschte weiter vor und hielt seine Hände nahe am Boden, sodass der Vogel jede von Julians Bewegungen genau sehen konnte.
„Erschreck ihn nicht“, flüsterte ich. Doch Julian bewegte sich so sanft und geschmeidig, er hätte wahrscheinlich sogar ein scheues Reh im Wald einfangen können. Ich hielt den Atem an, bis er den Spatz endlich in einem Frotteenest in seinen Händen hielt.
Wir standen beide auf, dann drehte sich Julian zu mir und ließ mich unseren kleinen ängstlichen Freund genauer betrachten. „Sein Herz klopft wie eine Nähmaschine.“
Ich stieß ein erleichtertes Seufzen aus und widerstand dem Drang, den kleinen Kopf des Vogels zu streicheln. „Und was jetzt?“ Meine Stimme war nicht lauter als das Zu-Boden-Fallen einer Stecknadel.
„Es wird Zeit für den kleinen Ausreißer, in sein Nest zurückzukehren.“ Julian verwirrte mich, als er seinen Kopf nach oben neigte und dabei leicht in die Knie ging. Allem Anschein nach hatte er wohl vor, gleich loszufliegen wie Superman.
Jemand hier draußen hatte offenbar einen an der Waffel. Und ich war’s ganz bestimmt nicht. Ich zog eine Augenbraue hoch, verkniff mir aber eine dumme Bemerkung, indem ich mir auf die Zunge biss.
Julian richtete sich wieder auf und wich meinem Blick aus. Er räusperte sich. „Nun ja“, stammelte er verlegen. „Könntest du mir dann bitte den Hocker von da drüben holen, damit ich zum Nest raufsteigen kann?“ Er deutete mit einem Nicken auf seine Seite des Balkons hinüber, wo ein kleiner, runder Schemel in der Ecke stand.
Sofort packte mich nackte Panik. Ich trat von der Schwelle zurück in mein Zimmer und fasste mir mit einer Hand an die Brust. Ich schüttelte den Kopf und spürte dabei, wie gerade sämtliche Farbe aus meinem Gesicht wich.
„Ah richtig. Da war ja was.“ Er sah mich eindringlich an, atmete dabei durch die Nase aus und kräuselte die Lippen. „Könntest du dann den Vogel für einen Moment halten?“
Ich verlagerte mein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Ich hatte noch nie einen Vogel in der Hand. Was ist, wenn ich ihm weh tue?“
„Keine Sorge. Du kriegst das schon hin.“ Er machte einen Schritt auf mich zu und überreichte mir dann das ganze Spatzen-Handtuch-Paket.
Behutsam legte ich meine Hände um den eingewickelten Vogel. Da begann der kleine Teufel zu zwitschern und mit den Flügeln zu flattern, als wollte ich ihm an den Kragen. „Oh Mann, ich schätze, er will zurück zu dir.“
Julian beruhigte mich mit einem Lächeln. „Der Kleine will zurück in sein Nest. Wir beeilen uns also lieber.“ Als ich immer noch nicht so recht wusste, wie ich den Vogel halten sollte, legte Julian seine Hände um meine. „Ganz ruhig. Du machst das prima. Drück nur nicht zu fest zu.“
Ich versuchte meine Muskeln zu entkrampfen und meinen
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