Märchenwald Mörderwald
hatte sich in ein mächtiges Gespenst verwandelt. Warum das so gekommen war, dafür hatte Marisa keine Antwort.
Vielleicht sollte sie doch in den Wald gehen und versuchen, mit Alina Kontakt aufzunehmen. Genau das traute sie sich jedoch nicht.
Sie verließ die Küche wieder, begab sich in den Wohnraum und nahm erneut vor dem Fenster Platz. Licht brannte nicht hinter ihr. Nichts störte sie, und sie sah wieder die leere Rasenfläche vor sich.
Nach gut einer Minute hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie wollte das Haus zumindest verlassen und auf der Wiese stehen bleiben, umgeben von den Düften der Feldblumen, die dort wuchsen.
Bevor sie das Haus verließ, streifte sie noch eine Jacke wegen der Kühle über. Dann ging sie hinaus. Sogar eine Taschenlampe hatte sie mitgenommen und die Türschlüssel ebenfalls nicht vergessen.
Suchend und. ohne das Licht einzuschalten, ging sie einmal um das Haus herum. Sie blieb dann an der Rückseite stehen und nahm tatsächlich den Geruch der Feldblumen wahr.
Das Gras reichte ihr bis über die Knöchel hinweg. Hier glich der Erdboden einem dicken Teppich, auf dem man sich wohl fühlen konnte, wenn alles normal war.
Das war hier nicht der Fall. Sie konnte nur nach vorn zum breiten Waldrand schauen, in dem es dunkel blieb. Die hohe Gestalt ihrer Tochter malte sich dort nicht ab, obwohl sie so groß wie die Bäume war oder sie sogar überragte.
Marisa Benson wusste selbst, dass es nichts brachte. Aber sie konnte nicht anders und streckte bittend die Hände nach vorn. Dabei rief sie halblaut Alinas Namen und bat sie, endlich wieder zurückzukehren.
»Wie immer du dich verändert hast und wo immer du bist, mein Kind, wenn du mich hörst, dann komm zurück! Wir lieben dich. Egal, was mit dir geschehen ist. Bitte, Alina, bitte...«
Sie hatte immer lauter gesprochen und hoffte, dass Alina ihre Bitten verstand.
Es blieb still.
Sie vernahm nur das Rascheln der Blätter, aber die gaben ihr keine Antwort auf ihre Bitte. Das konnte nur Alina tun, vorausgesetzt, sie war in der Lage, zu sprechen.
Marisa Benson wartete ab.
Ihr Mann hätte sie ausgelacht, doch sie hörte auf ihre innere Stimme.
Der sanfte Wind rauschte in ihren Ohren. Sie spürte ihn zudem auf der Haut. Sie hörte ihn, denn er hatte sich plötzlich in eine Stimme verwandelt.
»Mutter...«
Die Frau erschrak so heftig, dass sie sich auf die Zunge biss und einen leisen Schrei ausstieß. Plötzlich wurde ihr kalt, und sie glaubte, dass die Erde anfing zu schwanken.
War das die Stimme ihrer Tochter gewesen?
Marisa Benson hielt den Atem an. Dabei hatte sie noch eine sprungbereite Haltung angenommen. Innerlich bebte sie und hoffte darauf, dass sich die Stimme abermals meldete.
Das trat nicht ein.
Doch so leicht gab sie nicht auf. Nach einem tiefen Atemzug versuchte sie es.
»Alina...?«
Keine Reaktion.
»Bitte, Alina, hörst du mich?«
Wieder vernahm sie nichts. Nur der Wind war da.
Und dann passierte es doch. Aus der dunklen Tiefe des Waldes ertönte Alinas Stimme. Sie flüsterte nicht, sondern rief ihr halblaut eine Botschaft zu.
»Mutter, Mutter – es ist alles anders geworden. Der Wald ist nicht mehr das, als was du ihn kennst. Er steckt voller Rätsel, voller Geheimnisse. Er hat sich geöffnet, denn alles, was versteckt gehalten wurde, ist nun aufgebrochen. Ich bin noch da, Mutter, aber ich bin nicht mehr so wie früher. Die uralten Zeiten haben die Oberhand gewonnen. Auch wenn es nicht zu begreifen ist, versuche trotzdem, es zu verstehen. Sonst kannst du dein Leben nicht mehr weiterführen. All das darfst du nicht vergessen. Aber du kannst auch wegziehen, wenn deine Angst zu groß wird. Ich bin im Wald, und ich werde dort bleiben.«
Marisa hatte alles gehört. Sie ging zwei Schritte vor und blieb dann wieder stehen.
»Aber warum?«, rief sie. »Warum ist das alles geschehen? Es muss doch einen Grund geben!«
»Es gibt ihn. Aber er liegt weit, so weit zurück. Es ist kein Märchenwald, Mutter, kein...«
Mehr sagte sie nicht. Die Stimme verstummte, und Marisa Benson wusste, dass sie keine Frage mehr zu stellen brauchte. Sie hätte keine Antwort mehr bekommen.
Wie lange sie auf dem Fleck gestanden hatte, wusste sie nicht. Erst als sie hinter sich ein Geräusch hörte, drehte sie sich um. Sie sah einen Schatten, der sich vom Dach ihres Hauses löste und mit schnellen Flügelschlägen in die Luft stieg.
Ein heftiger Windzug fegte an ihr vorbei, als der Vogel dicht über ihren Kopf hinwegflog und wenig
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