Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
Staatsgeheimnis zu erklären. Sie zu veröffentlichen, wie es die Verteidigung Chiriacos verlangt, könnte die Verdachtsmomente gegen die Gesundheitsinstitutionen der Lombardei zerstreuen. Oder im Gegenteil noch massiv verstärken. Wie auch immer. Der Mammutprozess gegen die kalabrischen Mafia-Clans in der Lombardei und ihre Komplizen wird weitergehen, ob mit oder ohne die ominöse Untersuchung.
Vom äußersten Süden bis ans nördliche Ende von Oberitalien hat die ’Ndrangheta das Gesundheitssystem und seine Spitzenvertreter ins Visier genommen. Der Grund ist leicht zu verstehen. Für die ’Ndrangheta genügt ein Mann vom Kaliber Chiriacos, um eine ganze Region zu infiltrieren. Chiriaco hat sich in einem abgehörten Telefonat selbst entlarvt: »Ich, er und Pizzata, wir waren die Chefs der ’Ndrangheta in Pavia (…).« Und in seiner Unterhaltung mit Pasquale Libri fährt er fort: »Nach außen hin habe ich mich als jemand hingestellt, der nur Verwaltungsdirektor ist.« Mit solchen Leuten wie Chiriaco vertrauten Umgang zu haben, sich in der Grauzone der korrumpierbaren Honoratioren in regelmäßigem Austausch zu befinden, ist für die lombardische Außenstelle der ’Ndrangheta von vitaler Bedeutung. Schlüsselfiguren wie Chiriaco bei ihrer weiteren Karriere zu unterstützen, heißt, politische Abschirmung zu bekommen. Mit der Politik im Rücken kann man Millionen Euro an Drogengeldern in den Wirtschaftskreislauf einschleusen. Da werden Bebauungspläne und Nutzungsvorschriften geändert und Baugenehmigungen erschlichen. Das ist Sache der Politik, die sich für die Stimmen der ’Ndrangheta erkenntlich zeigen muss. Und es ist auch die Politik, die dafür sorgt, dass die hehren Grundsätze der Bürokratie zugunsten der Mafiosi aufgeweicht werden. So schafft man ein ganzes System. Eine teuflische, leise arbeitende Maschine, deren Getriebe Gesundheitswesen, Politik, Unternehmen und Mafia verbindet. Ein Perpetuum Mobile, das bis in alle Ewigkeiten so weiterarbeiten wird. Ein System, das es den ’Ndrangheta-Clans in der Lombardei erlaubt hat, Bedingungen dafür zu schaffen, Mafia-Strukturen analog zu jenen in Kalabrien zu etablieren. Strukturen, die sich über eine Entfernung von tausend Kilometer hinweg in permanentem Dialog miteinander befinden. Und dank der ethischen Schwäche, der die Lombardei anheimgefallen ist, ist die ökonomische Lokomotive Italiens heute die norditalienische Kernregion der ’Ndrangheta.
All dies konnte sich Peppe nicht vorstellen, als er mit einem Koffer in der Hand Kalabrien verließ, um sein Studium im norditalienischen Pavia zu beginnen. Und er steht wieder vor einer wichtigen Entscheidung. Soll er wegsehen, wenn er dem Boss in seiner neuen Krankenhaus-Behausung in Pavia begegnet, einfach starr geradeaus schauen? Gleichgültigkeit schafft wenigstens keine Probleme, denkt er sich. Oder soll er reagieren, diese Machenschaften ins Rampenlicht zerren? Mit dem Wissen, das er von geheimen Vorgehensweisen hat. Soll er sich isolieren mit dem Mut von jemandem, der sich erinnert und der sich engagiert? Peppe kann sich zu keiner Entscheidung durchringen. Er fährt fort, mit halbherziger Haltung zu leben. Sein Geld in Restaurants zu schleppen, die der ’Ndrangheta gehören, und den Bossen die gebotene Verehrung zu erweisen. Man weiß ja nie, sagt er sich, irgendwann könnte es einem vielleicht von Nutzen sein.
Willkommen in der Lombardei
, steht auf einem Schild an der Straße, auf der ich fahre. Aber aus den Erzählungen von Peppe und aus den Untersuchungsakten zeigt sich mir ein anderes Bild: Alles verweist auf das »System Kalabrien«, auf seine Riten, seine Geheimnisse, die man nicht beichten kann, seine ’Ndrangheta-Logik. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied: In Kalabrien ziehen Unternehmer vor Gericht, um sich vom Mafia-Joch zu befreien.
7.
LOMBARDISCHE
POLITKORRUPTION
Pasquale Libri wird von Phantasmagorien heimgesucht. Stunde um Stunde verbringt der 37-Jährige im Juli 2010 damit, über die Vergangenheit, die Zukunft und seine Freveltaten nachzudenken. Sein väterlicher Freund Carlo Chiriaco ist verhaftet worden, die Anti-Mafia-Behörde ermittelt gegen ihn. Es sind niederschmetternde Tage für Libri. Die Staatsanwälte zählen ihn zum lombardischen Zweig der ’Ndrangheta. Und es ist in dieser Situation nicht gerade hilfreich, in Reggio di Calabria geboren und mit der Nichte des obersten Mafia-Bosses Kalabriens verheiratet zu sein – Rocco Musolino, jenseits der Achtzig,
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