Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
ökonomische Krise, vor allem in den reichen Regionen des Nordens, hat viele Unternehmer dazu gezwungen, die einzigen Akteure um Kredite zu bitten, die solche überhaupt noch in nennenswertem Umfang zur Verfügung stellten. Kredite, die viele Banken seit Beginn der Wirtschaftskrise nicht mehr gewährten. Es war ein Teufelskreis, der die in Schwierigkeiten geratenen wirtschaftlichen Unternehmer direkt in die Fänge der Mafiosi führte.
Fabio Lonati ist einer dieser Unternehmer. Aber der einzige, der gegen seine Erpresser Anzeige erstattete. Andere geben die Annahme solcher Kredite zu, erstatten aber keine Anzeige. Wiederum andere schweigen gänzlich dazu. Eine Art
Omertà
(Schweigegebot der Mafia) des Nordens, gegen die Ilda Boccassini, die Leiterin der Anti-Mafia-Behörde von Mailand, einige Male anzugehen versuchte. Lonati erhielt von »Alessio« Novella einen Kredit zu wucherischen Konditionen. Es ging um rund 500.000 Euro. Der Zinssatz lag bei zehn Prozent – pro Monat. Insgesamt kostete Lonati der Kredit auf diese Weise zwei Millionen Euro. Bis er in weitere Schwierigkeiten geriet und nicht mehr zahlen konnte. Dafür bezog er von der Mafia Prügel und erhielt weitere Drohungen. Typisch für die Lombardei unter der Knute der Mafia, die ihre Ziele mit Zuckerbrot und Peitsche, im Maßanzug und mit der Panzerfaust verfolgt. Von ihr erzählt der mutige Unternehmer: »Alessio [Novella] wollte einen Termin mit mir ausmachen, in einem Café in Legnano. (…) Dort traf ich Novella und einen weiteren Mann, wir haben etwas getrunken, und dann haben sie mich gebeten, ihnen ins Café von Alessios Bruder zu folgen. Als wir zum Parkplatz gegangen sind, um ins Auto einzusteigen, sagte mir Alessio, dass der Schwager von Scarfò mit mir fahren würde. Wir sind am Café von Alessios Bruder vorbeigefahren und dann in eine Garage eingebogen. Novella ging mit mir in eine andere Garage und setzte mich dort auf einen Stuhl und blieb dabei ganz ruhig. Dann hat er mit jemandem über die Gegensprechanlage gesprochen. Vermutlich hat er in der Bar Bescheid gesagt, dass wir da sind. Dann nahm er eine Pistole, Kaliber vielleicht neun oder 7,65 Millimeter, und hat mich damit geschlagen. Dann hat er zwei Wechsel hervorgeholt, die ich nicht bezahlt hatte und befahl mir, sie aufzuessen. Der Schwager von Scarfò war die ganze Zeit dabei. Bevor er wegging, kam ein Junge in die Garage, den ich noch nie vorher gesehen hatte. Er verpasste mir einen Fußtritt und meinte, ich solle die Leute gefälligst anschauen, wenn sie mit mir sprechen. Es war ein junger Mann von ungefähr dreißig Jahren mit dunkler Hautfarbe. Er trat mich auch gegen den Hals. Ich erinnere mich, dass sie mich dreimal mit dem Pistolengriff schlugen. Ich bin nicht ins Krankenhaus gegangen, um mich behandeln zu lassen. Alessio Novella befahl mir, bis Ende des Monats zu zahlen. Andernfalls könne ich ihn ruhig anzeigen.« So beschreibt Fabio die erlittenen Demütigungen. Seine Beschreibungen unterscheiden sich kaum von jenen von Mafia-Opfern aus dem Süden. Der Süden gleicht dem Norden, beide befinden sich in der Hand der ’Ndrangheta.
»Alessio« Novella ist damit beauftragt, die Botschaften seines Vaters an die jeweiligen Adressaten zu übermitteln. Einige Mafia-Angehörige wie Vincenzo Mandalari schätzen »Alessio« sehr. Mandalari hält ihn für den idealen Kandidaten, um im Falle eines »Arbeitsunfalls« seines Vaters in dessen Fußstapfen zu treten und die Spitze der ’Ndrangheta in der Lombardei zu übernehmen. »Hoffentlich gibt ihm Gott der Herr ein langes Leben, aber wenn unser Kumpel Nunzio eines Tages nicht mehr da sein sollte, dann könnt ihr jetzt schon davon ausgehen, dass ich Alessio den nötigen Respekt entgegenbringen werde. Das werde ich ihm auch selbst sagen, bevor es zum Erbfall kommt.« So die von der Carabinieri-Spezialeinheit ROS aufgezeichnete Einlassung von Mandalari.
Vater und Sohn haben die Zukunft der
Lombardia
in der Hand. Sie sind nur noch einen Schritt vom Olymp der ’Ndrangheta entfernt. Aber die Eigenmächtigkeiten des Vaters, der in Eigenregie neue Mafia-Zellen genehmigt und ohne die Zustimmung der Zentrale ’Ndrangheta-Ränge vergibt, werden »Alessio« zum Halbwaisen machen. Er wird keine Chance bekommen, seine Ehre vor den obersten Rängen der ’Ndrangheta wiederherzustellen. »Nunzio« und »Alessio« verband ein normales Vater-Sohn-Verhältnis, auf der Basis der perversen und im Zweifelsfall tödlichen Verhaltenskodizes der Mafia,
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