Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)

in den Verwaltungsrat berühmter Baufirmen Norditaliens aufzurücken. Eine Baustelle ist für einen Mafia-Boss nicht einfach ein eingezäuntes Stück Land. Sie ist viel mehr – ein herausragender Beobachtungsposten für die wirtschaftliche Situation der Region. Einmal mit den eigenen Fahrzeugen, Männern und Firmen auf einer Baustelle angekommen, gelingt es der ’Ndrangheta im Handumdrehen, ebenso wichtige wie unsichtbare Bande zu knüpfen. Diese sind für die Organisation lebenswichtig, um ihre Erfolgsgeschichte fortsetzen zu können.
    Von einer »eroberten« Baustelle aus beginnt der Weg der sozialen Legitimation, derer die ’Ndrangheta-Clans dringend bedürfen, um in diesem reichen, produktiven Umfeld weiter ihr Geld machen zu können. Es beginnt die Phase der Camouflage. Ist diese geglückt, setzt die Kontrolle und Informationsbeschaffung über die Konkurrenzfirmen ein. Dabei geht es den Clans vor allem um Ausschreibung von Aufträgen, Kunden, starke Mächte im Hintergrund, Schwachpunkte und Stärken der Konkurrenzunternehmen. Informationsgewinnung über Dritte und immer neu gesponnene Verbindungen zu Politik, Institutionen und Unternehmern erlauben es der ’Ndrangheta, ihre eigene wirtschaftliche Zukunft zu planen. Eine komplexe Managementoperation, innerhalb derer die Rollen und Ziele klar verteilt sind. Der Boss erteilt seinen Fußtruppen die Anweisungen, welche Opfer zu erpressen sind, von wem Gefälligkeiten »erbeten« werden, wer Geldbündel abzuliefern hat und wer Aufträge abgeben soll. Alles Dinge, die nicht möglich wären, wenn sich die Mafia nicht mitten im Geschehen, mitten im ökonomischen Beziehungsgeflecht Norditaliens befände.
    Zwischen den im Norden verteilten Mafia-Clans aus dem Süden gibt es keine Konkurrenz. Das ist vorbei. Jetzt einigt man sich auf dem Verhandlungsweg. Man setzt sich zusammen und verteilt die Kuchenstücke, um sie dann genüsslich zu verspeisen. Es ist ein entschleunigter, aber gleichzeitig ungeheuer destruktiver Vorgang, der verheerende Folgen für das Wirtschaftsleben des Landes hat. Die Straßen des Südens verwandeln sie schon mal in Kriegsschauplätze, das haben sie oft genug bewiesen, aber im Norden halten sie meistens still. Es bringt nur Probleme, wenn man hier wie verrückt um sich ballert, um Rechnungen innerhalb der Familie oder unter konkurrierenden Clans zu begleichen. Sicher gibt es auch in der Emilia-Romagna, in der Lombardei, in Piemont und in Ligurien Mordanschläge, aber diese gleichen eher chirurgischen Eingriffen und werden sehr zielgerichtet ausgeführt. Der Norden dient anderen Zwecken und muss für andere Projekte und andere Intrigen herhalten.
    Die Eroberung einer Baustelle produziert Skaleneffekte. Es ist der erste Schritt auf der Hierarchieleiter hin zu den Spitzen der Gesellschaft und der örtlichen Gemeinden. Die Ableger der ’Ndrangheta in der Lombardei und in der Emilia-Romagna haben das verstanden. Und die Effekte machen sich schon bemerkbar.
    Antonio sieht Schatten in einiger Entfernung. Es nähert sich eine Gruppe von Männern. Er duckt sich und versteckt sich hinter einer Mauer. Seine Neugier hat ihn dazu gebracht, um drei Uhr morgens bis zum Rand des Feldes zu schleichen, auf dem die Lastwagen ihre Fracht abladen. Was für ein Gestank, denkt er, während er darauf bedacht ist, sich nicht zu verraten. Er will herausfinden, wer ihn da seit einem Jahr jede Nacht aus dem Schlaf reißt. Sechs Männer kann er erkennen, die vor drei Lastwagen stehen. Antonio hört verschiedene Stimmen, kann aber nur mit Mühe verstehen, was gesprochen wird. Die Stimmen werden überlagert vom Lärm der Motoren und der Hydraulik, die die Pritschen der Lkws bewegen. Was er versteht, ist, dass die Fracht wegtransportiert werden soll.
    Es stinkt bestialisch. Chemisch. Die Dämpfe brennen in seiner Lunge. Er hält den Atem an und unterdrückt den Husten und das Bedürfnis, sich zu übergeben. Ein unbeschreiblicher Ekel steigt in ihm auf. Am liebsten würde er sofort nach Hause gehen, in sein warmes Bett. Aber erst will er herausfinden, was hier vor sich geht. Er greift nach einer Handvoll Erde, die abgeladen wurde. Er füllt sie in eine Papiertüte und verschwindet. Lässt diese höllische Veranstaltung mitten im Hinterland Mailands hinter sich. Eine weitere Nacht ohne Schlaf. Der Morgen steht schon vor der Tür. Antonio beobachtet mit einer Tasse Kaffee in der Hand den kleinen Erdhaufen, den er der ’Ndrangheta geraubt hat. Ein Freund von ihm arbeitet in einer