Mafia Princess
Romanelli, denn Tante Rita hatte alles mitbekommen. Sie war das lebende Tagebuch der ganzen Jahre bis zurück zu der Zeit, als Großmutter die Familie aus Kalabrien nach Mailand gebracht hatte. Sie mag ja durch die ganzen Drogen gesundheitliche Probleme gehabt haben, aber Tante Ritas Gedächtnis für Ereignisse, Daten und allerlei Einzelheiten war sensationell. Und zu erzählen hatte sie viel, da sie früh schon angefangen hatte; als Zwölfjährige hatte sie bereits Heroin transportfertig abgepackt, und zu ihren späteren Aufgaben gehörte es, Polizisten zu bestechen, um Schutz und Informationen zu beschaffen. Für meinen Vater führte sie die Heroinkonten, und sie schuftete für ihre Brüder und für Großmutter – kaum einer sang so schön bei der Polizei wie Tante Rita.
Auch andere sangen. Fabio, der charmante Gentleman, wurde ein weiterer Pentito , arbeitete also mit den Strafverfolgungsbehörden zusammen. Als rechte Hand wusste er viele Dinge. Mehrere, die in die Familie eingeheiratet hatten, gaben dem Druck ebenfalls nach und redeten.
Einer davon war der Ehemann einer Tante. Er war ohnehin ein abscheulicher Typ. Meine Tante beschloss, seinem Beispiel zu folgen, denn sie hatten drei gemeinsame Kinder. Ich weiß, hätte sie eine Wahl gehabt, hätte sie sich ihm nicht angeschlossen. Alle wurden festgenommen, und sie blieb ohne alles zurück. Sie hätte ihre Kinder allein großziehen müssen. In gewisser Weise verstand ich, weshalb sie es tat. Er war ihr Mann, und sie liebte ihn, obwohl es nicht richtig war, was er tat.
Valerias früherer Mann, Mario der Sizilianer, rächte sich jetzt an ihr und Dad. Kaum hatte man ihn aufgegriffen, wurde er schon zum Informanten, was mich nicht weiter überraschte. Ich war ihm gegenüber schon immer skeptisch gewesen. Aber auch der Polizei schlug er ein Schnippchen und flüchtete nach Brasilien, ehe ein Haftbefehl wegen Waffenschmuggels gegen ihn ausgestellt wurde.
Doch die gesprächigste und bei weitem bedeutendste Kronzeugin für die Staatsanwaltschaft war Tante Rita. In ganz Italien, in Spanien, Holland, Portugal, in Großbritannien und in Amerika wurden Hinweise und Kontakte, die sie der Polizei verraten hatte, verfolgt. Pausenlos wurden Leute verhaftet. Im Ganzen wurden gut einhundert Mafiosi und ihre Soldaten festgenommen.
Als ich Brunos Schwester Silvia in Mailand anrief, konnte sie mir sagen, dass es einundvierzig Namen der Familie gab, aber sie konnte nicht genau angeben, wer alles auf der Liste der Gesuchten stand. Ich könnte die nächste sein. Was würde dann aus Lara?
Am Morgen nachdem ich Lara aus Italien geholt hatte, wusste ich, dass ich nicht auf der Verhaftungsliste für die Massenfestnahmen stand, aber wie war es mit Spanien und Portugal? Das wusste ich nicht. Zu meinem Vater konnte ich nicht, zu Bruno konnte ich auch nicht. Zu meiner Großmutter ebenfalls nicht.
Einen Tag lang saß ich in dem Hotel in Nizza und dachte nach.
Das Netz war komplex und verworren.
Ich schlüpfte durch.
Ich rief den einen Menschen an, dessen Liebe zu mir und dessen Hilfe für mich immer bedingungslos gewesen waren – meine Mum.
Sie sagte, sie wolle am Sheringham Way 7 in Poulton-Fylde, Lancashire, die Fenster öffnen und lüften.
14 Regnerische Tage in Blackpool
Tinemu d’occhiu u scurpiuni e u sirpenti,
ma nunni vardamu du millipedi. [Wir nehmen uns in Acht vor dem Skorpion und der Schlange,
aber auf den Tausendfüßler achten wir nicht.]
Sizilianisches Sprichwort
Obwohl Tante Rita in dem ganzen Drogengeschäft nur als Mädchen für alles benutzt wurde – wenn auch als ein gut bezahltes Mädchen für alles, das zweimal in der Woche den Gegenwert von etwa vierzigtausend Pfund auf die Bank trug –, brachte ihr Geständnis das ganze Gebäude zum Einsturz. Sie kannte alle Geheimnisse, kannte den Teufel im Detail. Sie erzählte, wie die Kinder der Familie auf Großmutters Knien das Gesetz des Schweigens, die omertà , verinnerlicht hatten. Niemals die Wahrheit sagen, stattdessen lieber gar nichts sagen, das hatten alle gelernt. Gewisse Einstellungen durchdrangen das Leben in der Mafia: Die Ehre war stets zu respektieren, die Familie musste gerächt werden.
Ich weiß noch, dass Rita mir einmal von einem Jungen aus Kalabrien erzählt hatte, der während unserer Sommerferien im Süden umgekommen war. Sie war zusammen mit dem Jungen aufgewachsen und hatte, als sie von seinem Tod erfuhr, »eine Woche lang geweint«. Doch unsere Cousins weinten nicht. Sie wollten nur
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