Magazine of Fantasy and Science Fiction 21 - Flucht in die Vergangenheit
praktisch wirkungslos, aber wir benützten sie als Entschuldigung, um Straffällige weiterhin guten Gewissens wie Tiere einzusperren.
Allmählich setzten sich die Chemotherapie, die Narko-Analyse und die forensische Chirurgie durch. Die präfrontale Lobotomie, Amphetamine, Beruhigungsmittel und andere wissenschaftliche Verfahren sollten den Straffälligen ›heilen‹. Ja, aber mit welchem Erfolg? Wurden die Verbrecher ins Leben zurückgeschickt, konnten sie als vollwertige Mitglieder der menschlichen Gesellschaft weiterleben? Nur in den seltensten Fällen, Doktor, nur in den seltensten Fällen, denn die Angst vor einem Rückfall war allzu groß. Gesetzesbrecher, deren Vergehen ›gesellschaftlich akzeptabel‹ waren, wurden bald wieder entlassen. Aber die anderen, die ein Verbrechen wie Vergewaltigung oder Mord begangen hatten, das die Leute – oder selbst nüchterne Wissenschaftler – nie vergeben würden, blieben für immer Ausgestoßene.«
»Die Leute haben eben Angst«, murmelte Kidder. »Denken Sie nur an einen Mann wie Milo ...«
»Ja, ein Mann wie Milo«, sagte Newkirk. »Sie haben in Ihrem Brief erwähnt, daß Sie ihn bereits kennengelernt haben, Doktor Kidder.«
»Ja, aber nur flüchtig, als er eben straffällig geworden war. Ich war zufällig bei Doktor Bradmore, dem untersuchenden Arzt, zum Essen eingeladen, als er an den Tatort gerufen wurde. Bradmore hat mich sogar gebeten, die erste psychiatrische Analyse vorzunehmen; der Täter wurde jedoch in Ihre Klinik eingewiesen, bevor ich Zeit hatte, ihn zu untersuchen.«
»Nun, ich habe Gelegenheit dazu gehabt, Doktor. Ich habe seinen verbrecherischen Geist in bösartigster Form gesehen; er war verkommen, pervertiert, gemein und unverbesserlich. Ich wollte, Sie hätten einen Blick in diesen Höllenpfuhl werfen können.«
Ich erinnere mich an dich, kleiner Bach. Silberhelles Wasser zwischen grünen Ufern, ein Spielzeugboot in der Strömung. Sieh nur, Mutter, sieh doch! Dort schwimmt die Dreimastbark Lollipop. Hahahaha! Hörst du Rover bellen? Rover ist ein lustiger kleiner Hund! Siehst du, wie ich radfahre, Vater? Siehst du, wie groß ich schon bin, Vater? Ich wachse schnell, Mutter, ich werde ein großer Junge. Ja, Milo, ja, ein großer Junge, bald ein großer Junge.
»Jeder Mensch ist das Produkt seiner Erinnerungen«, sagte Newkirk. »Alle psychologischen Richtungen seit Freud sind sich in diesem Punkt einig. Die in den Neuronen unseres Gehirns gespeicherten Erinnerungen beeinflussen unsere Reaktionen auf neue Eindrücke; sind die Erinnerungen schlecht, müssen auch die Reaktionen schlecht sein. Was erwarten Sie also in Milos Fall von einem Gehirn, das geradezu vor schrecklichen Erinnerungen überquillt?«
»Ist es wirklich so schlimm?« fragte Kidder und drückte seine Zigarette im Papierkorb aus.
»Wirklich so schlimm«, antwortete Newkirk ernst. »Milo wurde in der Süchtigenabteilung eines Krankenhauses geboren, und seine Mutter starb an ihren Ausschweifungen, bevor der Junge zwei Jahre alt war. Ein Onkel nahm das Kind zu sich und mißhandelte es so grausam, daß der Junge mit fünf Jahren bereits ein steifes Bein hatte. Ein ›mitleidiges‹ Vormundschaftsgericht wies ihn in ein staatliches Heim ein, dessen brutale Atmosphäre er nur fünf Jahre lang aushielt; als er zehn geworden war, riß er aus und lebte auf der Straße. Er wurde von Dieben, Hehlern und Pervertierten ausgenützt; er beging seinen ersten Mord mit vierzehn Jahren und hatte es nur seiner Jugend zu verdanken, daß er nicht auf den elektrischen Stuhl kam. Er saß eine siebenjährige Strafe ab und wurde mit einundzwanzig begnadigt. Seine anschließend begangenen Verbrechen zeichneten sich durch besondere Rücksichtslosigkeit und Brutalität aus. Er wurde noch dreimal verurteilt, und die letzte Strafe war lebenslänglich, weil er inzwischen als Gewohnheitsverbrecher galt. Bei einer Gefangenenmeuterei im Zuchthaus Atlanta gelang ihm die Flucht, und er wurde erst wieder festgenommen, nachdem er ... sein letztes Verbrechen begangen hatte.«
Dr. Kidder fuhr zusammen. »Ja«, sagte er. »Eine schreckliche Sache. Die arme Familie Gilbert – die drei Kinder ...«
»Ich finde Ihre Reaktion nicht ganz verständlich«, stellte Newkirk eisig fest. »Die Art des Verbrechens hat nichts mit dem Prinzip zu tun, nach dem wir handeln müssen. Hätte Milo hundert Kinder ermordet ...«
»Es ist nicht leicht, so objektiv zu sein«, entschuldigte Kidder sich. »Überlegen Sie nur, wie dem
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