Magazine of Fantasy and Science Fiction 22 - Im Angesicht der Sonne
dachte er.
Er nahm die Kanister nacheinander hoch und leerte sie über den Stiefeln seines gelben Druckanzugs aus. Der Mondstaub fiel senkrecht und wie ein Stein, ohne etwa weich und nachgiebig zu wirken. Eine leere Geste. Er sah nach Osten, wo die sichelförmige Erde dicht über dem Horizont hing. Rußland lag jetzt im dunklen Teil, im nachtschwarzen Teil, den die leuchtende Sichel umgab.
Und auch dort war es leer, der ganze Weltraum war leer; die Erde war nur eine rotierende Kugel in dieser Leere, der Mond eine weitere, die Sonne und die Sterne nur glühende Gaskugeln. Wenn man sich das vorstellte! Wenn man sich vorstellte, daß er sterben würde, weil er nicht mehr genug Sauerstoff hatte, um seine Blutzellen zu ernähren. Wenn man sich vorstellte, daß ...
Aber er hatte nicht mehr genug Zeit, um an alles zu denken. Bald, sehr bald, würde er überhaupt nicht mehr denken können.
Das Funksprechgerät summte weiter.
Fliegen, die einen Kadaver umsummten. Auf dem Mond konnte es kein Leben irgendwelcher Art geben. So viele hübsche Geschichten, die nicht wahr sein konnten, weil es auf dem Mond kein Leben gab. Auch sein Leben nicht. Schade um seine eigene hübsche Geschichte.
Er merkte, daß er den Atem angehalten hatte, als könne er dadurch Sauerstoff sparen. Das dumme animalische Wesen in seinem Unterbewußtsein bildete sich noch immer ein, es könne irgendwie gerettet werden. Armes, dummes Ding. Wie seine Mutter, die in den letzten Sekunden ihres Lebens eine Ikone geküßt hatte, während die intelligenten grauen Augen bekannten, daß sie wußten, es würde kein Weiterleben nach dem Tod geben. Die Lippen glauben, die Augen leugnen.
Er schaltete das Funksprechgerät mit der Zunge ein. »Ja?« sagte er.
»Oh, Michael! Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Wir dachten, du ...« Tonias warmer Alt war selbst aus 385.000 Kilometer Entfernung unverkennbar.
»Nein, noch nicht.«
»Wir haben inzwischen festgestellt, was an der ganzen Sache schuld war. Die dritte Einspritzpumpe hat offenbar einige Zehntelsekunden zu lange ...«
»Bitte, Tonia. Das nützt mir jetzt wirklich nichts mehr.« Die Betonung zeigte, daß er es für möglich hielt, irgend etwas anderes könne ihm noch helfen.
Nun entstand eine kurze Pause, bevor Tonia weitersprach. Der veränderte Tonfall ihrer Stimme zeigte, daß sie geweint haben mußte. »Wir bewundern dich alle, Michael«, versicherte sie ihm, »weil du so ... krrrr ... bist.«
»So tapfer?« fragte er. Dieses eine Wort war in atmosphärischen Störungen untergegangen, aber es mußte ›tapfer‹ gewesen sein. »Ist es tapfer, weiterhin zu essen und zu trinken, solange die Vorräte reichen? Ist es tapfer, ebenso lange zu atmen? Tapferer bin ich nicht gewesen.«
»Wals hast du gesagt, Michael? Ich habe eben kein Wort verstanden.«
»Nichts.«
»Assya läßt dir ausrichten, daß sie dich liebt, Michael.«
Vier Minuten.
»Sag ihr, daß ich sie auch liebe.« Er schaltete das Funksprechgerät mit der Zunge aus und dachte daran, wie sehr das einem Kuß glich – und wie sehr doch nicht.
Nein, er starb nicht für die Wissenschaft, denn die Wissenschaft ist kein guter Grund zum Sterben.
2
Er starb für die Liebe.
Hatte er sich nicht früher einmal, damals in einem längst vergangenen Sommer, voller Überzeugung gesagt, er könne jetzt ohne Bedauern sterben, weil jedes spätere Erlebnis nur ein schwacher Abglanz wäre? Und war sie nicht unbeschreiblich schön gewesen, seine Assya? Die Haut rein und klar und makellos, das rasche, unsichere Lächeln, der Duft von Heu in goldenem Haar, die endlosen Tiefen in ihren grauen Augen. Hätte diese Erinnerung an Assya, die ins Gedächtnis zurückgerufene Wärme jenes Sommers, nicht genügend Gründe dafür geliefert, dieses Leben nicht weiterzuführen?
Aber das ist vorbei, widersprach er sich. Das ist bereits ein Stück Vergangenheit.
Richtig. Es ist unmöglich, die Erdrotation aufzuhalten, das weiß jeder, ebenso unmöglich ist es jedoch, Lieblichkeit oder Liebe daran zu hindern, im Laufe der Zeit abzunehmen. Sie vergeht nach Jahren oder an einem Abend, aber sie vergeht. Weder Schönheit noch Geistesadel noch andere menschliche Werte sind unvergänglich. Auch der Geist unterliegt einer Entropie, die der Entropie der Welt entspricht. Assyas Charakter war wie ihr einst so festes Fleisch aus Mangel an Gebrauch und Übung schwammig geworden. Für Assya kam der Tod wie bei den meisten Leuten nicht plötzlich, sondern auf Raten. Liebe?
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