Magazine of Fantasy and Science Fiction 22 - Im Angesicht der Sonne
Nein, davon konnte nicht mehr die Rede sein.
Und trotzdem war das Gras in jenem Sommer so grün gewesen. Die Sonne hatte heiß vom wolkenlosen Himmel gebrannt. Er hatte die Heuballen hochgehoben, hatte neben Assya gearbeitet, hatte zumindest vorläufig vergessen, wieviel Arbeit ihm im nächsten Semester auf der Universität bevorstand; er hatte alles vergessen – nur Assya nicht, die er liebte. Der dunkle Nachthimmel mit Tausenden von Sternen, ein silberner Halbmond, ein leichter Wind, der die Blätter rascheln ließ, romantische Zweisamkeit. O ja, eine idyllische Szene.
Aber lange, allzu lange her.
Nun lagen die Felder, auf denen sie Seite an Seite gearbeitet hatten, unter einer meterhohen Schneedecke. Hätten sie nicht zwischen den Spitzen der Erdsichel gelegen, hätte er sie jetzt glitzern sehen können, wie Nordeuropa nun glitzerte, als es die Strahlen der aufgehenden Sonne reflektierte.
Die Erde starb jedes Jahr, um nach der kalten Jahreszeit zu neuem Leben zu erwachen. Sein Winter würde nie zu Ende gehen, aber was machte das schon aus? Konnte er nicht mit einem einzigen Sommer, mit einem Sonnenstrahl und mit einem Kuß zufrieden sein? Was konnte ihm eine Wiederholung geben, das er nicht schon besaß?
Worte, leere Worte. Worte allein waren kein Trost.
»Assya«, sagte er leise vor sich hin. Aus seiner Stimme sprachen Bedauern und – Neid. Denn sie würde weiterleben; er mußte sterben.
Eineinhalb Minuten.
Das Funksprechgerät summte.
Wenn er nur in einem einzigen grandiosen Feuerwerk untergegangen wäre, in einem letzten Aufflackern, das jeder Motte vergönnt war, anstatt eine Woche lang zu überleben, sich eine weitere Woche dahinzuschleppen und dabei erleben zu müssen, wie alle Liebe abnahm.
Nein, er starb nicht für die Liebe, denn die Liebe ist kein guter Grund zum Sterben.
3
Er starb für den Staat.
Die Wissenschaft ist unpersönlich. Die Liebe stirbt meist früher als die Liebenden. Aber es gibt Ideale – das redete er sich zumindest ein –, die ohne Zweifel die Autorität der ersten besaßen, ohne auf die wesentliche Humanität der letzten zu verzichten. Er war wie jeder Astronaut ein guter Patriot – sogar fast ein Fanatiker. Er war seit seinem achtzehnten Lebensjahr Parteimitglied, was weder leicht noch normal war, wenn man als Student ein schwieriges naturwissenschaftliches Studium zu bewältigen hatte.
Er glaubte mit beinahe religiöser Intensität an die Zukunft seines Landes, an dessen historische Mission. Er war stolz – und welcher Russe konnte nicht stolz sein? – auf die gewaltigen Fortschritte, die in nur fünf Jahrzehnten Wirklichkeit geworden waren, obwohl es nicht an Feinden von außen gefehlt hatte. Aber obwohl sie alles versucht hatten, um diese Entwicklung aufzuhalten, war es doch Rußland, sein Rußland, gewesen, das den Mond zuerst erreicht und einen Menschen dorthin geschickt hatte.
Nun würde allerdings niemand jemals erfahren, daß dieser Mann ein gewisser Michael Andrejewitsch Karkow gewesen war. Die Nachricht von diesem überraschenden Coup der Sowjetunion wäre erst nach seiner erfolgreichen Rückkehr veröffentlicht worden. Dieser Fehlschlag würde geheimgehalten werden, weil eine Veröffentlichung nicht im nationalen Interesse lag. Und war dieses Interesse nicht auch sein eigenes?
Trotzdem hätte er es gern gesehen, wenn sein Name Schlagzeilen gemacht hätte. Eine menschliche Schwäche.
Waren die meisten Märtyrer der Revolution und viele der Helden von Stalingrad nicht unbekannt gestorben? Waren ihre Opfer weniger wertvoll, nur weil ihre Namen in Vergessenheit geraten waren? Er hätte nein sagen müssen, aber seine Lippen blieben geschlossen.
Was wäre gewesen, wenn er Erfolg gehabt hätte? Was wäre gewesen, wenn er nach seiner Rückkehr als Held der Sowjetunion gefeiert worden wäre? Hätte das etwas an der Tatsache geändert, daß er sterben mußte – und daß angesichts des Todes nichts mehr ruhmreich, nichts mehr stolz und nichts mehr wertvoll ist, weil dann nur noch etwas mehr Leben, ein paar Sekunden, ein weiterer Atemzug, einige Herzschläge zählen.
Nein – obwohl er sich bemühte, selbst daran zu glauben –, er starb nicht für den Staat.
Der Sauerstoff war zu Ende. Er warf einen letzten Blick auf die Erde, ohne wirklich wahrzunehmen, was seine Augen sahen; er achtete nicht auf das eindringlich summende Funkgerät, sondern tastete nach den Schrauben, die sein Helmfenster luftdicht geschlossen hielten, und löste sie mit
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