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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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Handgelenk, da, wo der Puls ist, den die Lehrerin mir gezeigt hat. Helldunkel, kühlwarm.
    Bei sehr hellem Licht blieb ich am Ende noch ein wenig drinnen und spielte ein anderes, älteres Spiel. Es stammte aus der Zeit der ersten Gottesdienstbesuche mit etwa drei Jahren, als ich zwischen den Eltern in der riesigen Menschenmenge stand. Immer hinten, wir hatten nie einen Sitzplatz, weil wir, Vaters wegen, der sonntags mit dem Rasieren einfach nicht fertig wurde, notorisch zu spät kamen. In dieser Enge hatte ich anfangs nur Angst, ich stand stocksteif, selbst die angenehme Stimme des Pfarrers und der Gesang konnten mich nur schwer beruhigen. Bis ich einmal auf dem Rücken einer Frau vor mir leuchtende Farben sah, auf ihrem weißen Kleid tanzten bunte Lichter. Die Sonne beförderte die prächtigen Fenster auf die Kleider der Gläubigen, die Fenster selbst sah ich auf die Entfernung nicht oder nur sehr schemenhaft. Das Farbenspiel war seitdem mein Gottesdienst, ich hatte nun etwas, was ich verstand und was mich freute. An den Markttagen spielte ich das Spiel wieder, suchte auf dem Boden oder auf hellen Flächen wie dem Altartuch den Widerschein der Fenster.
    Manchmal reichte die Zeit noch für den Turm, und ich erklomm die Wendeltreppe, die mir Großvater vor Jahren gezeigt hatte. Ich wendelte zügig, Schritt für Schritt, aus dem Dunkel, hier und da unterbrochen von Glühbirnenfunzeln, bis zu den ersten Fenstern, durch die der Tag schien. Dann war ich bereits über den Häusern, noch eine kleine Anstrengung, und ich war auf der Plattform. Die Ankunft da oben war jedes Mal eine Sensation, mit Worten nicht zu beschreiben. Da mir schwindelig wurde, wenn ich den Kopf zu lange im Nacken ließ, legte ich mich auf den Boden. Über mir der Turm aus Sandstein, unermesslich hoch und zugleich fein wie die Spitze an den Rändern von Mutters Sonntagstaschentüchern, zwischen den geklöppelten rötlich braunen Linien strahlendes Himmelsblau. Geborgener als unter dem Turmhelm war ich nie.
    Wichtig war für mich auch ein ganz unheiliger Ort, das öffentliche Klo am Münsterplatz. Die Klofrau war eine Freundin von mir, eine alte hutzelige Frau mit lila Kopftuch, die anderen haben immer «Hex» zu ihr gesagt. Einmal kam ich aus der Kabine in der Damenabteilung und machte wohl ein unglückliches Gesicht, und dann hat sie mich angesprochen und mich gestreichelt und mir Dörrobst geschenkt, und so ist es passiert, dass wir uns befreundet haben. Wahrscheinlich hat sie mich genauso gern wie Großvater, dachte ich. An ihre Liebe habe ich mich bald gewöhnt, sie mir bei dieser Gelegenheit immer wieder besorgt – und niemandem etwas davon verraten. Wie sie hieß? Ich weiß es nicht. Ob sie Familie hatte? Ich erinnere mich nur noch an das unbestimmte Gefühl, ich sollte nicht fragen, und an dieses innig Gemeinsame, das wohl mit unser beider Außenseiterdasein zu tun hatte, und an den immer frischen Blumenstrauß, in einer Konservendose vor ihrem Fenster. Morgens auf ihrem Weg zur Arbeit muss sie wildwachsende Blumen und Kräuter gepflückt haben.
    Der erste von vielen, vielen Berufswünschen, die ich in den nächsten Jahren hatte, war: Klofrau am Münsterplatz zu werden. Putzen, nein, mit dem Pipi und den «Bumsern» (so sagten wir für die Brocken aus Scheiße) der fremden Leute wollte ich nichts zu tun haben. Ich wollte gemütlich dasitzen und die klimpernden Zehnerle einnehmen.
    Um zwölf Uhr beendete das Mittagsläuten meine Ausflüge. Die Marienglocke war es, eine von zehn Glocken im Münster, sie schwang dunkel und gemächlich, so lange, dass niemand sie überhören konnte. Von höchster Stelle, sozusagen, wurde mir bedeutet: Magdalena, es ist Zeit. Schluss mit dem Streunen! Auf dem Rückweg hielt die unbeschwerte Stimmung manchmal noch an. Ich erinnere mich an einen Tag am Ende der Schulferien, an dem die Sonne lange auf meine linke Schulter schien und ich ging und ging und erfüllt war von der Wärme, einfach nur glücklich. Sehr, sehr glücklich. Meistens aber verschwand unterwegs das schöne Gefühl, denn ich musste mich beeilen, und Eile ist nichts für mich. Füße, Ohren, Gedanken, alles verwirrt sich, verknäult sich, und wenn mir noch dazu ein Mensch in die Quere kommt, der dumm fragt, ist es ganz aus. An zwei, drei Stellen musste ich immer jemanden bitten, mich über die Straße zu führen. Bitten ist schwer, dabei konnte man an ziemlich unangenehme Leute geraten.
    «Kind, was fehlt dir?»
    «Nichts!»
    «Bist du denn so

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