Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
gegenüber Fahrrädle den Vorteil, dass ich sie schnell fallen lassen konnte, wenn einer hinter mir herschrie.
Der Krieg verschaffte mir bald ein weiteres Gefährt. In der Schlossbergstraße wurden Bunker ausgehoben, und dazu brauchte man Loren. Die Gefangenen, die die diese Arbeit verrichteten, ließen uns Kinder manchmal aufsitzen und mitfahren. Ein junger Ukrainer hatte mir mal gezeigt, wie man den Drehbolzen löst, seitdem wagte ich es nach Feierabend ab und zu, mir selber eine Lore flottzumachen – ab, den Berg runter mit Karacho. Ausgerechnet der Erzbischof hat mich dabei erwischt. Auf seinen Spaziergängen beobachtete er mich offenbar und kriegte bald heraus, wer das strubbelige, waghalsige Mädchen war und wo es wohnte.
«Gerade war der Conrad Gröber da und hat sich über dich beklagt!» Ich wusste sofort, jetzt war die Kipplore dran. Mutter war doppelt erschrocken, über mein gefährliches Tun wie über den hohen Besuch.
«Ja, Mutter», sagte ich, schuldbewusst. «Aber darf ein Erzbischof petzen?»
«Weißt du, dass das tödlich enden kann?»
Jetzt würde es gehörig was auf den Hintern geben. Mutter hatte wenig Geschick im Hauen, wenn man laut genug brüllte, hörte sie schnell auf. Diesmal jedoch blieb die Tracht mit dem Kochlöffel aus, sie drückte mich an sich.
«Du solltest dem Erzbischof dankbar sein, Magdalena.»
«Ja, Mama.»
Bei der Firmung, einige Jahre später, kriegte ich vom Erzbischof einen stärkeren Backenschlag verabreicht als die anderen Firmlinge. Ein letztes Mal bin ich ihm im Februar 1948 begegnet, kurz bevor ich von Freiburg fortmusste, in eine fremde Stadt. Conrad Gröber war im Münster aufgebahrt. Während ich mit vielen weinenden Gläubigen an ihm vorbeizog, dachte ich an die Kipplore. «Sei nicht so wild, Magdalena!» Zwischen den Schluchzern und dem leisen Singsang der Gebete dieser Satz, klar und eindringlich. Hat sich der Erzbischof meiner erinnert?
Freiburg, das waren furchtbar viele Leute, die auf mich aufgepasst haben. Im Laufe des Krieges nahm diese Aufmerksamkeit allmählich ab, je näher er kam, desto weniger kümmerten sich die Erwachsenen um mich.
Zum achten Geburtstag, 1941, hatte mir Vater aus Südfrankreich Orangen, Mandarinen und Datteln geschickt. Nicht lange davor war er für ein paar Tage bei uns gewesen, schlecht gelaunt und noch stachliger anzufühlen als früher, mit viel Gepäck. Unter anderem fand sich darin eine Puppe, Jacqueline hieß sie, mit kastanienbraunem Haar und einem himmelblauen Ballkleid. Goldene Schuhe trug sie an den Porzellanfüßchen. Vater hatte allerhand von Paris erzählt, von Parfüms, von Schminke, «Notre Dame», überwiegend Gutes, nur «der Fraß» dort behagte ihm nicht.
Aus dem Elternschlafzimmer hatte ich in der Nacht, auf dem Weg zum Klo, das Wort «Erschießungen» gehört. Erschießungen? Auf wen oder was und womit wurde geschossen? Ich legte das neue Wort in meinem kindlichen Lexikon unter der Rubrik ab, in der sich schon die Wörter «kriegsverzehrt» und «Kanonenkugeln» befanden.
Dahinein kam wenig später auch «Fronturlaub». Bald nach Vaters Besuch sagten die Leute, wenn sie unsere Mutter sahen: «Ach, der Mann war wohl auf Fronturlaub.» Auch Fräulein Pfeiffer flocht dieses Wort in ihre Gratulation zur Geburt meiner Schwester Christel ein: Wie schön, dass mein Vater noch einmal «auf Fronturlaub», gewesen sei, bevor ihn der Krieg von Frankreich nach Russland beordert habe.
Immer mehr Wörter bevölkerten die Abteilung KRIEG, meistens dröhnten sie aus dem «Körting». Man kam jetzt gar nicht mehr vom Radio weg. «Eingenommen» – Großvater nahm ein Herzmittel ein, unsere Soldaten nahmen Städte ein. Sieg heil, Sieg heil, wir Deutschen waren die Sieger, unser U-Boot-Geschwader hatte soundso viel tausend «Bruttoregistertonnen» versenkt. Ein Wort, unter dem ich mir absolut nichts vorstellen konnte. Wir hatten eine Hängeregistratur im Schreibtisch, die hatte mir Mutter mal erklärt. Aber dass ein Schiff tonnenweise solche Mappen mit sich führte und die Heeresleitung stolz war, sie alle versenkt zu haben?
Vater hatte mir mit seinen Erzählungen aus Paris einen neuen Floh ins Ohr gesetzt. Er hatte von Clochards geredet, Männern, die unter Brücken schliefen, und von Straßenmalern. Statt auf Papier, sagte er, malten die französischen Künstler auf dem Pflaster. Beides schien ihm nicht besonders zu gefallen. Mir umso mehr. Wie wäre es, wenn ich «Malclochard» werden würde!
Malen, frei malen,
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