Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
geboren?»
Besonders ältere Frauen fragten. Sie wollten oft gar nicht mehr von mir ablassen, sie liefen bis zur Herrenstraße und zum Erzbischöflichen Ordinariat mit. «Ja, und kann man da nichts machen mit den Äugle?» Grauenvoll, diese Neugier, und wenn ich umgekehrt sie etwas fragte, bekam ich keine Antwort. Um Hilfe zu bekommen, muss ich von mir und lauter Dingen erzählen, die Fremde nichts angehen, das hat mich schon als Kind genervt.
Unterwegs drohten auch Gefahren. Überall, wo ich mich befand, war ich auf der Suche nach Liebe, empfänglich für Zärtlichkeit und Schmeicheleien. Ich hörte es gern, wenn der alte Herr aus dem Nachbarhaus «mein braunes Mädchen» zu mir sagte. Das sei ein Ausdruck von dem «großen Dichter Johann Wolfgang von Goethe», er passe zu mir. Dabei wollte er mich immer anfassen. Hätte ich seinen Blick gesehen, wäre ich sicherlich nicht so arglos gewesen. Er sah mich an, möglicherweise begehrlich, und er wusste natürlich, dass ich ihn nicht richtig sehe, und ich, das Kind, sah ihn nicht und wusste damals noch nicht wirklich von seinem Vorteil.
Auf die Bedrohungen der Natur war ich besser vorbereitet, dafür hatte Großvater gesorgt. Zum Beispiel sind wir oft gemeinsam zur Dreisam spaziert, haben oben auf der Brücke gestanden und hinuntergeschaut auf den graugrünen Fluss, wie er schäumte, und dem Mordsgetöse gelauscht, das die Stimmen der Leute, manchmal sogar die Autos übertönte. Nachdem er mir erzählt hatte, die Dreisam habe es mal geschafft, bis zum Schwabentor zu kommen, hab ich Angst gehabt, sie könne eines Tages die Schlossbergstraße hochsteigen und unsere Erasmusstraße überschwemmen. Im Frühjahr bei Schneeschmelze habe ich immer besorgte Blicke auf die Dreisam geworfen. Wie hoch der Wasserstand war, vermochte ich nicht zu erkennen, nur, ob sie weiße Schaumkronen hatte. Ich horchte, ob sie schon brüllte. «Wenn sie brüllt, Magdalena, dann wird es ernst», hatte Großvater mich gelehrt.
Vorsicht! Verbote hier, Gebote dort. Ich wurde mehr reglementiert als andere, und nur weniges davon leuchtete mir wirklich ein. Respekt vor der Dreisam ja, das Verbot, von der Straßenbahn abzuspringen, nein. Das konnte ich doch, das verlockte mich wie alle anderen Kinder. Warum warten, bis sie stand?
Überhaupt: die Straßenbahn. Von allen Fahrzeugen mochte ich sie am liebsten. Sie hatte ihren festen Weg, den sie anders als die Autos nie verließ, und ein berechenbares, damals noch ziemlich gemächliches Tempo. Drinnen gab es unendlich viel zu sehen, Farben vor allem. Ich habe meine Mutter, wie sie mir später oft erzählte, mit meiner Begeisterung fast wahnsinnig gemacht. Einmal stieg eine Frau in einem zart vanillefarbenen Kleid ein, und ich jubelte:
«Maaaama, da kommt Vanilleeis.»
Oder eine in einem weißen Kleid mit dunkelblauen Punkten, das war für mich «Heidelbeeren mit Sahne». Die nächste Dame trug etwas Zartgrünes mit einem leichten Stich ins Graue.
«Jetzt kommt der Gurkensalat!»
Sie habe immer weggeguckt, erzählte meine Mutter später, «es war mir peinlich.» Trotzdem musste sie lachen, ich höre ihr Lachen noch manchmal im Traum, vermischt mit den Geräuschen der Straßenbahn. Das war das Tolle an meiner Mutter, sie konnte sich meinetwegen schämen und gleichzeitig über mich lachen.
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Blindgänger
Schnell sein hatte in diesem Alter, zwischen sieben und zehn Jahren, eine unheimliche Faszination für mich. Statische Spiele oder langsame Spiele fallen mir Hunderte ein. Stundenlang konnte ich zum Beispiel hinterm alten Viehbrunnen hocken, ins Gebüsch geduckt, wenn jemand vorbeikam, schnell die Arme lang gemacht und den Daumen auf den Wasserhahn. Was für eine Freude, wenn der Strahl traf!
Doch nichts ging übers Rollerfahren. Ich selbst hatte keinen, natürlich nicht, weder Roller noch Rollschuh, ich musste sie von anderen Kindern stibitzen. Am Wochenende oder in den Schulferien, zur Mittagszeit, war die beste Gelegenheit. Kurz vor zwölf Uhr schallte es über die ganze Straße: «Walterle, komm essen! Irene, komm essen!» Kurz danach war die Luft rein, und ich kroch aus meinem Gebüsch, schnappte mir den nächsten Roller, und ab um die Straßenecke rum und noch eine. Kräftig mit dem rechten Fuß abstoßen, ihn pendeln lassen, stoßen, pendeln, die Hände fest am Lenker. Das Trottoir war um diese Zeit menschenleer. Unebenheiten und kleine Löcher kannte ich, es war mein Schulweg, über den ich hinwegflog. Roller hatten
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