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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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hatte, was dort lief. An bestimmten Tagen war die Tante immer für einige Stunden verschwunden. Sie begannen mit geheimnisvoller Geschäftigkeit, ich hörte, wie sie sich im Zimmer vom Dienstmädle schminkte, roch eine Wolke von Parfüm. Dann mussten wir, das Dienstmädle Hedwig, der Scotchterrier Stropp und ich, mit der Tante zu einem Spaziergang aufbrechen. Hinter der nächsten Straßenecke bekamen wir Bonbons und Schokolade ausgehändigt, manchmal auch Geld für Eis und Kaffee, schnell, schnell, und sie verließ uns. Danach stromerten wir durch die Stadt, saßen sinnlos auf Bänken herum, bis sie geruhte, wieder aufzutauchen. Ihr Atem roch seltsam, nach Zigarre und irgendwas Süßem, und ihre Stimme kiekste und piepste wie die eines aufgeregten Kükens. Abends noch, spätestens am anderen Morgen stritten Tante Melli und Onkel Rudolf, aus dem Schlafzimmer zischte es: «szisshiiissssszzzuuusssu». Die Tante muss in dieser Zeit ihrem Mann sehr oft die Treue gebrochen haben. «Ich geh da nicht mehr hin», sagte ich bei meiner Rückkehr zu Mutter. «Sag bloß Großvater nichts», beschwor sie mich.
    Und ich musste wieder hin, in diese mir unheimliche Welt, immer wieder. Infolge des Krieges, noch bevor er richtig in Freiburg angekommen war, bekam ich einige wüste Lektionen in Menschenkenntnis verpasst. Onkel Rudolf war Zahnarzt, und schon zur Begrüßung hieß es: «Na, du kleine Hexe, was machen deine Zähnchen?» Schon saß ich in dem großmächtigen Stuhl unter der grünen Lampe.
    Wenn die Reparatur erledigt war, wurde die Praxis zu meinem Spielplatz. Jede freie Minute verbrachte ich im Labor. Dort gab es kleine Maschinen, viele Apparate und Apparätchen, und Bunsenbrenner, deren Flämmchen mir anfangs ein wenig Angst einjagten. Auf einem gut erreichbaren Regal lagen lauter Wachsabdrücke von Gebissen. Die Laborantin Irene erlaubte mir, sie zu betrachten, und ließ mich raten, ob sie zu einem Mann oder zu einer Frau gehörten. Wenn sie nicht mehr benötigt wurden, durfte ich sie verändern.
    Endlich hatte ich, was ich mir schon lange wünschte: genügend Material zum Kneten. Entweder wärmte ich es mit der Hand, oder ich nahm zum Aufweichen den Bunsenbrenner. Nachdem ich den Respekt vor ihm verloren hatte, war das der schnellere Weg. Wenn man den Menschen mit schlechten Gebissen hilft, werden sie schöner, und wenn sie schöner sind, werden sie vielleicht auch besser. In diesem Beruf jedenfalls kann man sich viel Dankbarkeit erwerben. Laborantin, wäre das nicht was für mich? Mein dritter Berufswunsch in ganz kurzer Zeit. Oder der vierte?
    Überm Laborspielen vergaß ich oft die Schularbeiten. Dort, in der Küche, wo ich sie hätte machen müssen, war es langweilig. Selbst der kleine Hund der Verwandten war entsetzlich langweilig. Stropp konnte nicht viel mehr als kläffen und faul auf dem «Diwan» (so hieß das Sofa bei Onkel und Tante) liegen. Einmal hab ich ihn in einem Anfall von Experimentierwut in den Eisschrank gesteckt, weil ich wissen wollte, ob er da drin Schnupfen kriegt.
    «Böses Kind!» War ich bös? «Schlechte Äugle und noch dazu ein Biest!» In dieser Zeit erwarb ich mir den Ruf, einen zweiten Makel zu haben. Dabei hab ich bestimmte Vorgänge einfach nicht verstanden, beim Abschätzen von Ursache und Wirkung fehlte mir manchmal, im wahrsten Sinne des Wortes, der Durchblick. «Der Hund hätte ersticken können, Magdalena!» Was wusste ich davon, ich sah ja weder Tier noch Mensch nach Luft schnappen.
    Oft handelte ich impulsiv, reagierte bei Gefahr oder bei dem Verdacht einer Gefahr ungewöhnlich heftig. Mit Tante Melli habe ich sogar mal einen richtigen Zweikampf ausgetragen. Sie wohnte inzwischen bei uns im Haus, eines Tages hatte sie mit dem Fahrrad und einem Koffer obendrauf heulend vor der Tür gestanden. Onkel Rudolf hatte sie endlich rausgeworfen, so zog sie zu Großvater, hat dessen Haushalt übernommen.
    Ich war allein zu Haus und besonders wachsam, weil ich wieder ein verbotenes Buch las, als ich die Schritte der Tante auf der Treppe hörte. Sie wolle nachsehen, ob Mutter schon die Tischdecke aus der Reinigung geholt habe. Also ging sie zur Anrichte, wo sowohl Tischwäsche wie Sonderrationen, sprich: Schokolade, aufbewahrt wurden, und schloss auf. Kaum hörte ich das Rascheln, war ich bei ihr, kratzte, biss und schrie, dass ich es der Mutter verraten würde. Bald lag die kleine, ungeschickte Tante Melli mit mir am Boden, ich auf ihr. Ich drohte, ihr das Gebiss einzuschlagen, wenn sie

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