Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Aber einem fliegenden Vogel? Ausgestopfte habe ich hier und da berührt, wunderschön, die Zartheit der Federn vor allem. In der Bewegung waren sie nur Schatten vor meinem Auge, die Pracht des Fluges oder eines ganzen Zuges von Kranichen entzog sich mir. Trotzdem konnte ich das nachher alles zeichnen. Das Zeichnen war für mich eigentlich nichts anderes, als aus dem Gesehenen, dem Erzählten, dem Getasteten und dem auf Bildern Dargestellten die Welt so zusammenzusetzen, dass ich sie begreifen konnte. Der Mensch. Der Vogel. Das Fahrrad. Ja, auf diese Weise habe ich endlich verstanden, wie mein Fahrrad funktioniert.
Den Zeichenunterricht in der Blindenschule schwänzte ich seitdem. Wir «malten» dort immer auf Wachstafeln. Das war ein Rahmen aus Metall, der mit Wachs ausgegossen war, in einer schrecklichen Farbe, grau-grün-gelb. Dahinein sollten wir etwas mit dem Metallstichel zeichnen, Dreiecke oder Würfel. Nur einmal im Tertial kreuzte ich dort auf. «Schützengräben machen mit dem Stichel, das will ich nicht.» Mit meiner Stinkwut hab ich meinen armen Lehrer völlig verrückt gemacht. Er war heilfroh, dass ich nicht mehr kam. Nach unserer Vernissage im Amerikahaus, die wir zum Abschluss des Kurses veranstalteten und zu der auch er kam, hat er mich dann völlig in Ruhe gelassen und mir stillschweigend immer eine gute Note gegeben. Unter den ausgestellten Bildern standen keine Namen, nur Nummern, aber an dem Zusatz «hochgradig sehbehindert» hat er meine erkannt.
Wohin mit meinem Talent, mit einer brotlosen Kunst, all den Träumen? Jetzt stand ich kurz vor der mittleren Reife. Wie weiter? Ich könnte doch eine Mittlerin zwischen Sehenden und Blinden werden. Schon länger rumorte dieser Gedanke in mir. Beide Welten kenne ich gut genug, ich gehöre beiden an, was selten ist – Brücken zu bauen zwischen ihnen, das war mein geheimer Traum. Aber da gab es keinen Beruf. Nirgends ein Ort, wo ich das, was mir vorschwebte, hätte ausführen können.
Abitur machen? Das hätte nur Sinn im Hinblick auf ein Studium. Jura oder Evangelische Theologie hieß das, entweder oder, für Blinde waren nur diese zwei Fächer möglich. Heinrich, mein Freund, wollte Jurist werden (und wurde es), für mich war das nichts. Theologie? Mit Gott und mir wurde es immer schwieriger, und als gelernte Katholikin konnte ich schlecht bei den Evangelischen anklopfen.
Zu Hause hatte ich mal vorgefühlt, wie es denn wäre, wenn ich weiterlernte. «Du darfst dich nicht verzetteln, Magdalena», war Vaters Antwort. Der Bruder müsse es bis zum Meister bringen, unser Betrieb wäre immer noch nicht ganz wieder aufgebaut. Christel sei auch noch da. «Schluss!» Hundertdreißig Mark monatlich für die Marburger Blindenschule, das war gewiss kein Pappenstiel.
«Ihr macht uns zu Idioten!», schrieb ich in der Schülerzeitung. «Ihr schließt uns ein. Seht ihr denn nicht, dass wir verblöden, wenn wir von der Welt ausgeschlossen werden. Wir haben jetzt eine freie Bundesrepublik, und wir gehören dazu.» So feurig ging es weiter. In mir war eine schreckliche, unstillbare Wut. Knapp achtzehn war ich. An dieser langen Rede, die ich für die Schülerzeitung verfasste, habe ich immer weitergeschrieben, immer neue Argumente, Erfahrungen hinzugefügt, mein ganzes Leben lang. In meinen kühnsten und traurigsten Momenten stand ich mit einem Riesenmegafon auf dem Mond und brüllte herunter, in Englisch, Französisch, Russisch, Kisuaheli, dass es die ganze Erde verstehen musste: «Ihr Idioten! Wisst ihr denn nicht: Homer war blind.» Glücklich war ich an dem Tag, als sie im Radio meldeten, ein Blinder sei Direktor der Nationalbibliothek von Buenos Aires geworden, Jorge Luis Borges. Es war ungefähr zu der Zeit, als ich Konrad begegnete, 1955.
Meinem Vater konnte ich noch ein Jahr Lernen abringen, die höhere Handelsschule und zusätzlich die Telefonistenprüfung. Dieses ertrotzte letzte Jahr Marburg war hart. Buchführung, kaufmännisches Rechnen, lauter Sachen, die mir wenig Freude gemacht haben. Ebenso wenig der Schreibmaschinenunterricht, diese riesengroßen alten Büromaschinen mit Punktschrifttastatur, richtige Hackklötze waren das, sehr anstrengend für die Finger, und du musstest auf Geschwindigkeit trainieren. Steno war noch eines der netteren Fächer, das waren kleine, handliche Maschinen – deutsche Einheitskurzschrift in einer Blindenversion. Kein großer Wortschatz war nötig, eben Bürojargon, ein Wort wie Apfelbaum ist darin nicht vorgekommen. Bis
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