Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Babytragetasche auf den Schlitten geschnallt, Konrad zog das Gefährt, und dann sind wir ein wenig auf der Straße, zwischen den aufgeschütteten Schneewänden, herumgelaufen. Und schnell wieder ins Haus, heißen Tee trinken! Ich erinnere mich gut an diesen Tag, an dem die seit Oktober verschwundene Sonne über den Berg gekrochen war und durchs Wohnzimmerfenster schien, wir auf dem Sofa, aneinandergelehnt. Lukas war eingeschlafen in seinem Korb, erwachte nach einer Weile wieder. Und zwitscherte. Zum ersten Mal nahmen wir gemeinsam das lustige Geräusch wahr, diese Abfolge kleiner abgehackter, vogelähnlicher Schreie. «I-iii-i-i-i-i-iii», machte ich ihn nach. «Was het denn dee?», fragte Konrad besorgt.
Alles war noch ungewohnt in diesem Leben zu dritt. Konrad verzog sich oft, wenn ich gestillt habe, in der Vermutung, seine Anwesenheit störe dabei, und ich war mir unsicher, ob der Anblick meiner riesigen, milchprallen Brüste ihm nicht peinlich war. Er traute sich noch immer nicht so recht, seinen Sohn anzufassen. Dieses winzige Wesen, das schreien konnte wie drei ausgewachsene Riesen, war ihm ein wenig unheimlich. Rührend, wenngleich nicht besonders erfolgreich, bemühte er sich, in der Wohnung wie auf Katzenpfoten zu gehen, dort seinen lautstarken Lehrerton abzustellen, den er früher nach dem Unterricht nach oben brachte und mit dem er mich manches Mal aus der Haut fahren ließ: «Ich bin nicht dreißig Schüler!»
Ein rätselhafter Mensch, dieser Konrad, und so ist er geblieben – entweder ist er sehr laut oder sehr still. Ob so oder so, es ist schwer, zu ergründen, was mit ihm los ist. Bei großen Lautstärken erschrecke ich mich, schaltet sich mein Gehör automatisch aus. Und einen stummen Fisch zu verstehen ist für ein blindes Huhn eine schier unmögliche Aufgabe. Vor der Stille habe ich immer mehr Angst, je älter ich werde. Sie darf nicht zu lange dauern, sonst werde ich unruhig, dann muss ich Konrad rufen. Oder ich fange wild an zu klappern und zu poltern. Manchmal möchte ich die Trommel schlagen, so eine große Trommel, wie die Guggemusiker im Alemannischen sie haben.
War es noch im März 1963? Ich glaube, es war ein Donnerstag oder Freitag, der Tag, an dem das Radio Tauwetter gemeldet hat, bald wäre die «Seegefrörne» vorbei, man möge das Eis nicht mehr betreten. Mittags hat die Sonne auf den Wickeltisch geschienen, ich drehte den Kleinen zum Fenster hin, und in diesem Augenblick zuckte er heftig zusammen. Er wandte sich vom Licht ab. Es war das gefürchtete Zeichen! Auch in den nächsten Tagen war es so, auch bei künstlichem Licht, wenn die Lampe am Wickeltisch direkt auf ihn gerichtet war, ist Lukas erschrocken. Ich verriet Konrad nichts davon, auch in die Augenklinik wollte ich vorerst nicht.
Am Monatsende fuhr mich der Schulpraktikant mit dem Auto nach Lörrach, zur Kinderärztin. Routine – nach der Untersuchung, ich war schon fast wieder draußen, sagte die Doktorin kurz:
«Sie wissen ja, dass Sie Ihrem Sohn Ihre Krankheit vererbt haben.»
Zu Hause unterdrückte ich mein Weinen. Ich habe noch bis zum Abend gewartet, bis Lukas nach dem letzten Stillen eingeschlummert ist. Er sollte tief und fest schlafen. Dann teilte ich Konrad die Nachricht mit.
«Wenn er so ist wie du, Magdalena, dann geht es.»
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August
In den Sternschnuppen-Nächten um Laurentius sind wir gewöhnlich lange draußen. Konrad links, an meiner Herzseite, auf den bequemsten Stühlen sitzen wir, wie im Kino, mit dem Rücken zur Hausmauer, von wo aus man ein ziemlich großes Stück Himmel sieht. Sterne, was sind Sterne? Fast achtzig Jahre jage ich dem Geheimnis der Gestirne hinterher. Der Mond ist der einzige Kumpel da oben, der sich mir hier und da gezeigt hat, als gelber Butterballen. Auch rot sah ich ihn mal in einer Winternacht in Tonberg, der rote Mond jagt mir Angst ein.
«So viele Sternschnuppen wie dies Jahr waren es noch nie», sagt Konrad. «Und? Warst du schnell genug mit dem Wünschen?» Er scharrt zufrieden mit den Füßen, anscheinend ja. Was er sich gewünscht hat, darf er nicht verraten, so sind die Regeln. Am Zucken seines Körpers merke ich: Jetzt, jetzt sieht er eine! Manchmal schreit er auch auf: «Ho!» Das ist mein Augenblick, der Augenblick, in dem ich mir etwas wünsche. So schnell ich nur kann, und wahrscheinlich immer zu spät, das Ding aus dem All ist längst verglüht. Bruchteile einer Sekunde, sagt Konrad, lägen zwischen dem Erscheinen und dem
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