Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Fremdartiges. Gerade hatte ich Astrid Lindgrens «Mio, mein Mio» gelesen. So ein Miokind will ich! Einen Buben, der das «Land der Ferne» entdeckt und der trotz seiner Schwäche alles vermag, sogar den bösen Ritter Kato mit dem steinernen Herzen verjagt.
An Silvester und bis in den Januar hinein haben wir über Namen beratschlagt. Konrad hatte noch schulfrei und blätterte viel in der Bibel, um auf Ideen zu kommen.
«Was hältst du von Daniel?», fragte ich. Daniel in der Löwengrube habe ich sehr gemocht, und natürlich wegen meines Großvaters Daniel Eglin.
«Oder David?» Der Junge, der gegen den Riesen Goliath antrat.
«Nein, das ist zu hebräisch.» Unser Sohn sollte nicht leiden, meinte Konrad, für den Fall, dass die Nazis wieder kämen.
«Und Lukas?»
Mein lieber Haustheologe grunzte beifällig. In seinem Studium, wusste ich, hatte er sich intensiv mit Texten von Lukas beschäftigt. «Lukas, der Arzt? Warum nicht!» In keinem anderen Evangelium ist so viel von «Heilen» die Rede, bei Lukas ist Jesus vor allem der Heiler, einer, der alle gesund macht.
Es war an der Zeit, sich nach Freiburg zu begeben. Mein Hausarzt riet dazu, ich hatte strenge Weisung, auf gar keinen Fall noch länger auf dem Berg zu bleiben. Es könne zu Krampfanfällen kommen, befürchtete er, einer sogenannten Eklampsie, einer sehr ernsten Komplikation. Also habe ich mich bei meinen Eltern in der Erasmusstraße einquartiert. Einmal am Tag bin ich raus in die Kälte, einmal bis zum Münster und zurück. Am Sonntag zwängte ich mich in unsere alte Familienbank, vorne links, ungefähr auf der Höhe der Kanzel, und bemühte mich tapfer, dem Gottesdienst zu folgen. Lieber Gott, hilf! Lieber Gott, lass den Konrad rechtzeitig kommen! Ausgerechnet jetzt war er mit den katholischen Lehrern, auf Einladung der CDU, nach Bonn gereist, den Bundestag besichtigen. Lieber Gott, mach doch etwas! Beim Ausatmen stieß mein Bauch jedes Mal gegen die Bank, bestimmt würden mich alle anstarren. «Brief an die Kolosser», las der Pfarrer, und da war es um mich geschehen, ich platzte los, ich bekam einen gewaltigen Lachanfall und schämte mich sofort ganz schrecklich über meine Unbeherrschtheit, trotzdem lachte ich weiter. «Brief an die Kolosser», tönte es noch einmal von vorn, mit Nachdruck. Was machen die nur für Witze? Wahrscheinlich hab ich das blödsinnig gefunden, weil ich so ein Koloss war. Ich quietschte immerzu weiter und weiter.
Ich vermute, in dieser Stunde hat sich der Lukas in mir auf den Weg gemacht. Damals wusste eine Erstgebärende meist herzlich wenig vom Geschehen, ich hatte ja keinerlei Geburtsvorbereitung gemacht.
«Mutter, komm, ich hab ins Bett gemacht!», rief ich in der Nacht.
«Ab in die Klinik!»
Zweieinhalb Tage, eine halbe Ewigkeit hat es gedauert, bis endlich mein Sohn aus mir herauskam. Meine Hebamme war eine, die nicht tröstete, mit groben Händen. In den ärgsten Wehen ist schließlich Konrad aufgetaucht. «Hab doch keine Angst, Magdalena. Das Kind kommt schon.» Ganz ruhig war er, umfasste meinen zuckenden, bis aufs Blut gequälten Leib. Bevor er wieder aus dem Kreißsaal geschickt wurde, zog er unter seinem Sterilmantel den Bären raus, unsere alte abgewetzte Handpuppe.
Aufputschmittel, Beruhigungsmittel. Der Muttermund wollte nicht aufgehen. Irgendwann müssen sie gemerkt haben, es ist zu spät für einen Kaiserschnitt, wir müssen anders eingreifen. Der Doktor schlug Alarm: «Famuli!» Ein paar junge Männer kamen hereingestürmt und haben mir die Oberschenkel gegen die Schulter gepresst, dass der Ausgang unten weit aufsprang. «Mein Kind geht tot», schrie ich. «Nicht so grob.»
«Nein, es lebt. Hör, doch!», sagte die Hebamme. Wirklich, es brüllte!
«Ein Bub», gratulierten die Famuli, «ein Bub, ein Bub.»
Ganz kurz habe ich das Körperchen meines Sohnes auf mir gespürt, jemand im Raum sagte Gewicht und Größe an. Dann sackte ich weg, in eine tiefe Ohnmacht, aus der ich erst am nächsten Morgen wieder erwachte. In einem Zimmer, in dem fünf Frauen lagen, jede ein Baby an der Brust. «Wo ist er?» Minuten später habe ich ihn im Arm gehalten. Er ist da! Und er trank sofort, gierig schnappte sein kleiner Kiefer zu, mit einer Hand boxte er gegen meine Brust, als ob er es gelernt hätte. So selbstverständlich, als wäre diese Brust ganz allein für ihn erschaffen, ungerührt davon, dass in mir kein Funken Kraft mehr war. Sein Trinken hat sehr wehgetan. Während er sich vollsog, betastete ich seine
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