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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Lachauer
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Repertoire gesprochener und gesungener Klänge, und an alles, was da mitschwingt: Zärtlichkeit, Strenge, Angst und Verheißung, Traurigkeit und Lebensfreude, Witz, Ekel, alle Register, alle Klaviaturen, die der Mensch eben hat.
    «Jetzt nehm ich die Creme, pass gut auf. Zuerst das Bäuchle, und jetzt kommt der Popo.» Auch bei den alltäglichsten Verrichtungen war ich in Stimmkontakt. «Jetzt tupf ich mit dem Handtuch dein Pinkele.»
    «Was redest du denn immer, Magdalena?», fragte Konrad mitunter.
    «Lass mich doch.»
    Während ich die Hausarbeit machte, lag Lukas meistens in seinem Laufstall im Wohnzimmer, da war er auf Nummer Sicher, sonst wäre er in seiner Entdeckerfreude überallhin, womöglich die Treppe runter. Durch die geöffnete Tür hörte er mich in der Küche hantieren, das Töpfeklappern, Wasserrauschen. Oft sang ich für ihn, «Je ne regrette rien», das mochte er, und «Ein Männlein steht im Walde».
    Ein Kind soll mit sechs Monaten sitzen können, sagten die klugen Mütterbücher. Lukas tat es nicht, er machte keinerlei Anstalten dazu. Mit acht, neun Monaten ist er immer noch in seinem Gitterbett und im Laufstall herumgekugelt, schlängelte sich vorwärts, seitwärts, rückwärts wie ein kleiner Aal. Vielleicht hat es daran gelegen, dass er so wohlgenährt war, er war ein richtiger Dickmops. Der Augenarzt, den ich in meiner Not befragt habe, erklärte mir: Warum soll er sich aufrichten, Hören geht im Liegen sehr gut, fortbewegen kann er sich krabbelnd auch. Die Dinge, die Neugier erregen und Kinder zum Sitzen und Laufen bringen, sieht er ja nicht. Irgendwann hab ich Lukas gezwungen, indem ich den Platz im Gitterbett so einengte, dass er sich setzen musste. Im elften Monat, kurz vor Weihnachten, konnte er es!
    Wir hatten einen leichten Kunststoffsitz gekauft, den man überall anklemmen konnte. Zum Spielen bastelte ihm Konrad aus den Deckeln von Nescafédosen, die Lukas liebte und mit wachsender Begeisterung durch die Gegend schmiss, eine lange, auf Lederband gezogene Kette, die er mit einer Schlaufe am Sitz festband. Ab sofort hatten wir im Haus Blechkonzert. «Klapp, pam, klapp-klapp, bong, klapp-klapp.» Gleichzeitig klopfte er rhythmisch mit den Füßen unter dem Tisch. «Euer Musikant», scherzte Galina, «klingt wie Sergei Sergejewitsch Prokofjew.» Galina war uns ein Halt, ihre Anwesenheit und ihr unbekümmertes Verhalten gaben uns das Gefühl, unser Leben sei völlig normal.
    Weihnachten 1963 war ein ganz besonderes Fest, nicht nur wegen Lukas. Wir hatten keine Lust, als «Heilige Familie» zu feiern, wollten unbedingt ein bisschen Trubel haben. Die Großeltern konnten nicht kommen. Schließlich hatte Konrad die Idee, wir rufen mal die Studentengemeinde in Freiburg an, die suchen doch immer Plätze für fremdländische Weihnachtsgäste. «Wunderbar, wir haben gerade einen Spanier, der hat noch keine Bleibe.» Spanier, dachten wir, ist prima, der ist katholisch, mit dem können wir gemeinsam in die Kirche gehen. Zwei Tage vor dem Fest rief mich die Wirtin von gegenüber ans Telefon. «Der Spanier ist krank», meldete die Studentengemeinde, «dürfen wir Ihnen einen Türken schicken?» – «Klar doch!» Als Erstes stürzte ich zur Gefriere, schaute, ob noch Hühnerfleisch da war, der geplante Schweinebraten war nichts für Muslime. Am Heiligen Abend kam mit dem letzten Bus ein kleiner, zierlicher Mann, mit dem wir uns gleich gut verstanden. Er war Perser, aus Isfahan. Wir aßen im Kinderzimmer, damit Lukas in seinem Gitterbett dabei sein konnte. Er war puppenlustig an seinem ersten Weihnachtsfest. Immer, wenn der persische Gast, Majid, sich räusperte, er war ziemlich erkältet, machte unser Sohn in seinem Bettle: «Grmmm, grmmm.» Auf jedes Räuspern ein «Grmmm», Lukas parodierte, und Majid lachte. Seitdem haben wir fast an jedem Weihnachten einen Fremden eingeladen.
    Lukas hat seine ersten Worte gesprochen, lange bevor er laufen konnte. «Hau», das war ich, «Biba», das war sein Lieblingslied. «Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann in unserm Kreis herum, widibum.» Im Frühjahr probierte ich aus, wie weit wir zwei uns ohne fremde Hilfe vom Schulhaus entfernen konnten. Mit dem Kinderwagen den Sandweg runter zu meinem Wiesle, das war zu schaffen. Dort legte ich Lukas den Führgurt um, an der zwei Meter langen Leine konnte er krabbeln zwischen den Trollblumen und Margeriten, ohne dass er mich und ich ihn verlor. Ein bisschen aufpassen musste ich, dass er nichts Giftiges in den Mund steckte, er

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