Magermilch
vor knapp zwei Wochen, als sie ihm zum ersten Mal gegenübergestanden hatte, faszinierten sie auch jetzt seine wasserblauen Augen.
Durchsichtiger als ein Gebirgsbach, dachte Fanni, hell wie Spiegel.
»Da haben wir ja noch ein schönes Stück zu laufen.« Fritz deutete den Berghang hinauf, wo der Weg, der sich dort oben zu einem Pfad verengte, einen mit Felsen durchsetzten Hang querte und dann wieder ansteigend auf die Kuppe zulief, hinter der das Defreggerhaus lag.
»Ist das deine erste Gletschertour morgen?«, fragte Fanni.
Fritz nickte.
»Aber wohl nicht deine erste Bergtour?«, hakte sie nach.
Fritz verneinte. »Letzten Sommer hat mich Willi dazu eingeladen, eine Klettertour mitzumachen.«
»Hat sie dir nicht gefallen?«, fragte Fanni.
Fritz lächelte das wasserblaue Lächeln.
Terence Hill würde Bachkiesel fressen, um es so hinzubekommen!
»Mit fehlt einfach die Zeit für so was.«
»Das hört sich ja an«, sagte Fanni, »als würden die Stolzers ihren Geschäftsführer hemmungslos mit Arbeit überhäufen.«
Er sah sie erschrocken an. »Nein, nein, so war das nicht gemeint. Die Niederlassungen waren meine Idee, und Willi hat mir damit freie Hand gelassen.« Er lachte. »Das verpflichtet allerdings auch.«
»Und lässt keinen Raum für Hobbys, Freunde und Familie«, stellte Fanni fest.
»Nein«, bestätigte Fritz. »Und wenn ich mal Zeit habe, dann besuche ich meine Mutter. Sie hat sonst nicht viel Gesellschaft.«
»Wo wohnt denn deine Mutter?«, erkundigte sich Fanni.
»Im Taunus«, antwortete Fritz.
»Ein weiter Weg. Mag deine Mutter nicht zu ihrem Sohn ins Donautal ziehen? Da hätte sie genauso wie in ihrer Heimat Wald und Hügel vor der Haustür.«
Fritz schüttelte den Kopf, während er über einen Felsblock sprang, weil sich der Weg mehr und mehr verengte. »Im Taunus ist sie verwurzelt, und da will sie auch bleiben. Obwohl es sehr einsam ist dahinten am alten Grubenhügel.«
Fanni schnaufte, als wäre sie außer Atem geraten, dann sagte sie lahm: »Das kann ich mir gut vorstellen.«
Fritz sah sie von der Seite an, seine Augen wirkten plötzlich eine Nuance dunkler. »Womöglich wäre es ein großer Fehler«, meinte er, »Mutter nach Deggendorf zu holen. Wer weiß, wie lange ich den Job bei den Stolzers noch behalten kann.«
»Unsinn«, erwiderte Fanni, »Martha wird dich niemals gehen lassen. Und auch Toni weiß, wie sehr die Firma Stolzer auf ihren tüchtigen Geschäftsführer angewiesen ist. Besonders jetzt, nachdem Willi so feige aus dem Weg geräumt wurde.«
»Willi kann keiner ersetzen«, sagte Fritz nachdrücklich. »Was für eine infame Tat, die Anseilschlaufe an seinem Klettergurt so auszufransen, dass sie auf Zug reißen musste.«
»Trinkpause vor dem Steilanstieg«, röhrte Hannes und ließ sich auf einen Stein fallen, der von vielen Hinterteilen glatt poliert aus einer Grasmatte ragte.
Fritz gesellte sich wieder zu Martha.
Toni, der neben ihr gestanden hatte, rückte zu Leni auf. »Hast du genug zu trinken dabei? Ich kann dir gern was abgeben von meinem Getränk. Isostar High Energy Drink, füllt den Verlust an Mineralstoffen im Nu wieder auf.« Er hielt ihr eine stylishe Plastikflasche mit pinkfarbenem Verschluss hin.
Leni nahm einen Schluck. Dann bedankte sie sich und tat so, als ob sie vor frisch gewonnener Energie gleich platzen würde. Aber Toni wirkte auf einmal traurig.
»Womöglich hätte sich Willi mit einem kraftvollen, reaktionsschnellen Griff retten können, wenn er meinen Energiedrink intus gehabt hätte«, murmelte er.
Fanni starrte verdutzt zu ihm hinüber.
Als Hannes zum »Sturmangriff« – wie er den neuerlichen Aufbruch nannte – blies, begann Fanni am Bauchgurt ihres Rucksacks zu nesteln und verzögerte dadurch ihren Abmarsch, bis Toni mit ihr auf gleicher Höhe war.
»Wie«, fragte sie ihn sogleich, »hätte denn Willi seinen Absturz verhindern sollen?«
Toni erklärte es ihr mit knappen Worten und einer veranschaulichenden Handbewegung. Er musste sich kurz fassen, weil der Pfad nun sehr schmal war und steil bergan verlief.
Fanni nickte. Sie begriff, was er meinte.
Während der nächsten eineinhalb Stunden, die sie im Gänsemarsch schweigend bergwärts stiegen, dachte Fanni darüber nach, welche Konsequenzen Tonis Theorie für ihn als einen der Hauptverdächtigen hatte und welche Schlüsse sich aus Fritz Maurers Auskünften ziehen ließen.
»Ein Bier«, grölte Hannes. »Als Allererstes brauch ich jetzt ein kühles Bier, sonst pappt mir
Weitere Kostenlose Bücher