Magical
mich die Vorstellung, dass ich in diesem tiefen, friedlichen Ozean versinken würde. Ich fing an, die Sterne zu bestaunen. In New York sieht man niemals Sterne. Die Lichter sind zu hell. Doch als die Schreie verstummten und ich mich damit abgefunden hatte, dass ich meinem Schöpfer gegenübertreten würde, beschloss ich, dass die Sterne das Schönste waren, was ich je gesehen hatte.«
»Das klingt herrlich. Schaurig, aber herrlich.«
»Das war es auch. Doch dann sah ich etwas noch Schöneres. Es war ein Mädchen. Ich wusste nicht, woher sie gekommen war. Das weiß ich noch immer nicht, aber sie schwamm auf mich zu. Sie war nicht tot, nicht halb erfroren und sie schrie nicht. Zuerst dachte ich, sie sei ein Engel, doch als ich ›Kannst du mir helfen?‹ sagte, ergriff sie mein Handgelenk und zog mich durch das Wasser in Sicherheit.
Ich kann mich kaum mehr daran erinnern, was als Nächstes geschah. Ich verlor immer wieder das Bewusstsein. Das Einzige, woran ich mich ganz gewiss erinnere, ist, dass das Mädchen neben mir im Rettungsboot saß und dass sie mir vorsang. Sie hatte die schönste Stimme, die ich je gehört hatte, wie die Sirenen aus der Mythologie.«
»Du warst im Delirium«, sagte Robert.
»Es war echt. Ich schlief mit diesem wundervollen Lied im Ohr ein, und wenn ich nicht mehr aufgewacht wäre, wäre das genug gewesen. Ich hätte vollkommene Glückseligkeit kennengelernt.«
Ich lächelte. Ich hatte meine Aufgabe erfüllt. Ich hatte ihn getröstet.
»Und dann«, sagte er, »erklang eine Schiffshupe und ich wurde wach. Doch das Mädchen konnte ich nicht mehr sehen. Sie war fort. Wo ich Euphorie hätte empfinden sollen, spürte ich nur Verzweiflung, denn es war klar für mich, dass das Mädchen – dieses Mädchen – das einzige von Bedeutung war. Keine Erbin, keine Mitglied der feinen Gesellschaft oder eine entfernte Verwandte des Königshauses, keine eigenwillige Schönheit wäre gut genug. Das Mädchen war weg, und sie war die Einzige, die ich je würde lieben können.«
Ich seufzte. Er liebte mich.
»Doch dann spürte ich eine Hand auf meiner und hörte eine Stimme, die sagte: »Na, na. Alles wird gut.«
Eine Stimme? Was für eine Stimme?
»Sie war wieder da, in all ihrer Pracht, der goldhaarige Engel. Sie hielt meine Hand, strich mir über das Haar und tröstete mich, bis wir an Deck der Carpathia gehievt wurden. Dann verschwand sie wieder.«
Aber ich hatte nichts dergleichen getan. War es möglich, dass der Junge Visionen von mir hatte?
»Bist du sicher, dass sie wirklich da war?«, sprach Robert meine Gedanken aus. »Es scheint so seltsam, dass sie einfach verschwand.«
»Wenn man das Ganze betrachtet, war es nicht seltsam. In dem Moment, als wir auf dem Deck der Carpathia ankamen, entdeckte mich Mutter. Sie warf sich mitaller Kraft auf mich und schrie: ›Mein Baby! Mein armes Baby!‹ Wahrscheinlich ist das arme Mädchen geflohen bei dem Gedanken, dass der Schrecken des Schiffbruchs durch den Schrecken, den Mutter verbreitete, ersetzt würde. Ich suchte überall, aber es war zu voll. Ich kannte nicht einmal ihren Namen.«
Langsam verstand ich. Das blonde Mädchen, das auf dem Rettungsboot geschlafen hatte. Sie hatte Haare wie ich und war ungefähr in meinem Alter. Sie war hübsch und sie war noch da, nachdem ich geflohen war. Sie hatte ihn getröstet.
Ich hätte ihr dankbar sein sollen, dass sie sich um ihn gekümmert hatte, damit er nicht allein sein musste. Stattdessen spürte ich den festen Griff der Eifersucht um meine Kehle. Bei seinen nächsten Worten wuchsen diesem Griff noch Krallen.
»Ich liebe sie, Robert. Sie rettete mir das Leben. Sie tröstete mich, und so lang ich lebe, werde ich sie lieben und nach ihr suchen.«
Der Spiegel glitt mir aus den Händen. Bessie fing ihn auf.
»Geht es dir gut, Liebes?«
»Er liebt mich. Das hat er gesagt, und ich liebe ihn mehr, als Worte ausdrücken können. Aber ich werde ihn nie wieder sehen.« Die Wahrheit dieser Worte erfasste mich wie eine Welle. Ich würde nach Hause gehen und von meinem Vater gescholten werden. Dann würde ich den Rest meines Lebens in Einsamkeit und Verzweiflung verbringen.
Doch Bessie sagte: »Warum wirst du ihn nie wieder sehen?«
Nun, selbst in meiner Verzweiflung wusste ich, dass das einfach töricht war. Hatte sie nicht zugehört? Hatte sie keine Augen im Kopf? »Ich bin eine Meerjungfrau, und er ist ein Mensch. Wir gehören verschiedenen Spezies an.«
Bessie nickte. »Das stimmt, aber ich selbst bin
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