Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Magical

Magical

Titel: Magical Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Flinn
Vom Netzwerk:
Menschen benutzten ihn, um sich selbst zu sehen, da sie nicht immer ins Wasser blicken konnten wie das Meervolk. Bessie hieltihn mir hin. »Der Name des Jungen ist Brewster Davis. Wünsch dir laut, ihn zu sehen, dann erblickst du ihn.«
    »Wünschen?« Ich nahm den Spiegel. Der Griff war hart und glatt und warm von Bessies Hand. Ich sah darin mein eigenes Spiegelbild. Es war viel deutlicher als im Wasser, und ich entdeckte, dass ich schön war, schöner als meine Schwestern, so schön sogar, dass ich fast nach Luft geschnappt hätte.
    »Sag nur ›ich wünsche mir, Brewster Davis zu sehen‹, und dann siehst du ihn.«
    Brewster Davis. Sogar sein Name klang nach Schönheit und Verheißung. Was konnte schon passieren? Ich atmete tief die salzige Luft ein, die mit dem Rauch der Schiffe vermischt war, und wünschte es mir.
    »Ich wünschte, ich könnte Brewster Davis sehen.«
    Sofort verschwand mein Gesicht aus dem Glas und wurde von einem Bild ersetzt, dass ich nicht erkannte. Dann wurde mir klar, dass es ein Haus war, eines dieser viel zu vielen Schlösser an New Yorks Küste. Ich sah seine Vorderansicht, dann durch das Fenster. Mein erster Blick in ein menschliches Zimmer.
    Dort saßen zwei Leute. Ein junger Mann mit sandfarbenem Haar. Das war nicht das Gesicht, das ich suchte. Er war älter als Brewster Davis. Mein Brewster Davis. Doch gerade als ich mich abwenden und protestieren wollte, bemerkte ich den zweiten. Er war es! Obwohl ich schon gedacht hatte, ich hätte sein Gesicht vergessen, erkannte ich es auf den ersten Blick – das braune Haar, dass sich um dieOhren herum leicht lockte, sein offenes, vertrauenswürdiges Gesicht. Ich beugte mich vor, bis ich sein Gesicht dicht vor mir sehen konnte, so wie ich mein eigenes betrachtet hatte. Ich starrte in seine Augen und wusste, dass sie gütig waren.
    Dann sagte er etwas.
    »Die Romane von Charles Dickens sind langweilig, Robert.«
    »Das liegt daran, dass du dich nicht konzentrierst«, sagte der andere Mann, und die Perspektive veränderte sich, sodass ich ihn ebenfalls sehen konnte.
    »Wie soll ich mich konzentrieren, wenn du mir so ermüdenden Lesestoff gibst?« Er deutete auf den Gegenstand in seinem Schoß. »Mr Dickens wurde pro Wort bezahlt. Deshalb hat er so viel Nebensächliches geschrieben.«
    »Nebensächliches?« Robert deutete auf den Gegenstand. »Dickens schrieb über die erhabensten Themen. Eine Geschichte aus zwei Städten handelt von Krieg und Liebe und Tod.«
    »Ah, aber genau das ist ja das Schlimme daran. Mr Dickens mag über den Tod geschrieben haben, aber hat er ihn auch mit eigenen Augen gesehen? So viel Tod, Robert, die Toten einer ganzen Gelbfieberepidemie in nur einer Nacht. Und Liebe! Die habe ich auch erfahren, selbst wenn ich ihr Antlitz nie wieder sehen werde.«
    Er seufzte und legte sich den Gegenstand wieder in den Schoß. »Oh, es tut mir leid, Robert. Ich bin mir sicher, es ist ein wunderbares Buch. Es ist einfach nur zu früh. Ichwerde die Nacht, die ich erlebte, nie vergessen. Was ich gesehen habe, lastet schwer auf meinem Gemüt. Ich erwarte nicht, dass du das verstehst. Es ist eine Sache, wenn man in der Zeitung über fünfzehnhundert Tote liest. Fünfzehnhundert ist nur eine Zahl. Aber wenn man dort ist, wenn man sieht, wie zwischen denen, die leben, und denen, die sterben, ausgewählt wird, wenn man weiß, dass man mit denen, die nicht das Glück hatten, am Vorabend zu Abend gegessen hat, und wenn man im eisigen Wasser strampelt und zusieht, wie eine Seele nach der anderen erlischt, und wenn man weiß, dass man selbst der Nächste sein wird – das ist etwas ganz anderes. So etwas verändert einen für immer.«
    Robert nickte. »Ich verstehe. Deine Mutter dachte, dass Lesen dir innere Ruhe schenken könnte.«
    »Meine Mutter hat nicht gesehen, was ich gesehen habe. Als das Schiff sank, galt ihre einzige Sorge ihrer eigenen Person.« Die dunklen Augen des Jungen wurden zornig.
    »Anstatt Geschichten zu lesen solltest du mir vielleicht deine eigene erzählen, wenn es nicht zu schmerzhaft ist.«
    »Es ist zu schmerzhaft, und gleichwohl sehne ich mich deshalb danach, sie immer wieder zu erzählen. Aber du verwöhnst mich, Robert. Du hast sie doch bereits gehört.«
    »Ich verwöhne dich, weil du es verdienst, dass man dich verwöhnt.«
    Eine weitere Aufforderung brauchte der Junge nicht – er begann mit seiner Geschichte.
    »Ich ging in dieser letzten Nacht früh zu Bett. Mutterhatte gewollt, dass ich ein Mädchen kennenlerne,

Weitere Kostenlose Bücher