Magical
Konnten einen Hunderte von Jahren der Einsamkeit in den Wahnsinn treiben? Konnte sie einen dazu bringen, Kinder zu backen? Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. Das war ein Spruch, den der Pfarrer oft in der Kirche wiederholt hatte, auch wenn ihn nur wenige beherzigten. Vielleicht sollte ich die Hexe nicht so streng verurteilen, solange ich nicht ihr Leben gelebt hatte. Oder vielleicht redete ich mir das auch nur ein, denn als ich ihr in die Augen blickte, erkannte ich, wie nützlich sie mir sein konnte. Dumm war ich nie gewesen. Meine Mutter hatte oft gesagt, ich sei klüger, als gut für mich wäre, zu klug, um einen Mann zu finden. Außerdem war ich klug genug, Gelegenheiten zu erkennen, die sich mir boten. Die Hexe war böse, möglicherweise geistesgestört, aber sie war älter und erfahrener als ich. Sie konnte nicht nur aus Leidenschaft, nicht nur in größter Not Zauber wirken, sondern wann immer es ihr beliebte. Sie wollte meine Mutter sein. Der Gedanke stieß mich zwar ab, aber ich wusste, was Mütter taten. Sie unterwiesen ihre Töchter. Wenn sie glaubte, ich würde sie respektieren, würde sie mich unterrichten. Ich schob den Gedanken an meine eigene liebe Mutter von mir. Es war müßig, an solche Dinge zu denken. Mutter war fort. Meine Kräfte waren zu spät erwacht, um sie zu retten. Außerdem würde Mutter nicht wollen, dass ich stürbe, dass ich Charlie sterben ließe. Da war ich mir sicher. Ebenso war ich mir sicher, dass die Hexe Charlie töten würde, wenn ich ihrerForderung nicht nachkam. Was sie mit mir machen würde, wusste ich nicht und es interessierte mich auch nicht.
Und wenn ich so viel ich konnte gelernt und ihr Vertrauen gewonnen hätte, würde ich fliehen können.
»Und was würde es mit sich bringen, Eure Tochter zu sein?«
»Mit sich bringen?«
»Was müsste ich tun und was würdet Ihr für mich tun? Und für Charlie?«
Die Hexe sog die Luft ein. »So weit hatte ich noch gar nicht gedacht.«
»Dann denkt darüber nach.«
»Es ist schon ziemlich lange her, seit ich eine Tochter hatte.« Sie verstummte und starrte geradeaus, ihr Blick verschleierte sich. »Die letzte meiner Töchter habe ich vor zweihundert Jahren verloren.«
»Aber als Ihr Töchter hattet, was habt Ihr sie gelehrt?«
»Gewöhnliche Dinge, backen und …« Mein Kopf fuhr zu der Wand herum, durch die ich Mirandas Stimme gehört hatte. »Nicht diese Art von Backen. Darum ging es damals nicht. Normales Backen – Brot und Kuchen und ja, Lebkuchen auch. Das war das Lieblingsgebäck meiner lieben Adelaide, und sie hat mir natürlich beim Nähen geholfen. Nicht Flicken. Für diese stumpfsinnigen Arbeiten verwendete ich Hexerei. Ich meine kunstvolles Nähen – Steppdecken und bestickte Tücher. Wir sprachen über die Zukunft, den Mann, den sie finden würde, die Kinder, die sie bekommen würde. Natürlich wurde nichts davon wahr.Sie starb ebenfalls an der Pest.« Die Hexe schüttelte den Kopf.
»Ah, ich verstehe. Ihr wollt Gesellschaft haben. Wenn ich Euch Gesellschaft leiste, werdet Ihr mir dann Rat und Unterweisung geben … wie eine Mutter?«
Nur auf diese Art und Weise brachte ich das Wort Mutter überhaupt heraus, aber es hatte die gewünschte Wirkung.
Die blutroten Lippen der Hexe formten sich zu einem Lächeln. »Natürlich, meine Liebe. Ich will in jeder Hinsicht deine Mutter sein. Wenn du meine Tochter wärst, würde ich dir beibringen, eine bessere Hexe zu sein. Das möchte ich, und du möchtest das auch.« Sie streckte die Hand aus und ordnete eine Haarsträhne, die mir ins Gesicht gefallen war. »Ich will, dass du mich lieb hast.«
Ich ließ mir ihre Berührung gefallen. Das musste ich. »Und mein Bruder?«
Sie zögerte lang genug, um mir klarzumachen, dass er nicht als Teil des Handels vorgesehen war. Schließlich sagte sie: »Ich werde mich auch um ihn kümmern. Wie um meinen eigenen Sohn.«
Ich lächelte. »Dann werde ich tun, was Ihr wollt.«
Und so wurde ich tatsächlich, wenn auch nicht von Herzen, die Tochter einer Hexe. Meine richtige Mutter vergaß ich deswegen nicht, aber ich war so sehr damit beschäftigt, neue und nützliche Dinge zu lernen, dass der Schmerz darüber, sie verloren zu haben, die anderen verloren zu haben, nachließ. Ich hatte meine Familie und mein Zuhause verloren. Und doch hatte ich auch etwas gewonnen, etwas, das nur wenige Frauen in dieser Zeit besaßen.
Ich gewann Macht.
Und ich lernte, wie man sie einsetzte. Anstatt jeden Morgen Frühstück
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